Daoismus
Der Erlösungssehnsucht, die im Volke verbreitet war, kam eine andere Lehre entgegen: der Daoismus. Ihm hing auch ein Großteil der Gebildeten an: Individualisten - Poeten und Gelehrte, deren Schriften das Zeitgefühl vermitteln.
Kaum jünger als die Lehre des Konfuzius - die Begründer der Schule Lao zi und Zhuang zi lebten im 4. Jh. v. Chr. - nahm der Daoismus die genaue Gegenposition ein. Er empfahl, das Heil im vereinzelten Weg (dao) des Individuums zu suchen. Es ist der Weg des Naturgesetzes, dem jeder folgen muss, ob Gott oder Mensch. Sich selbst zu vervollkommnen ist das Ziel, den Urzustand zu erreichen, Einswerdung mit der Natur. Aus der Ablehnung jeder Verpflichtung gegenüber Familie, Staat und Gesellschaft erwächst notwendig der Rückzug in die Einsamkeit der Natur, ins Einsiedlertum.
Aus dem großen Erlebnis der Winzigkeit des Menschen vor der All-Natur entstanden die bedeutendsten Werke der Poesie und eine der schönsten Hervorbringungen menschlicher Kunstübung überhaupt: die chinesische Landschaftsmalerei.
Da das dao im gesamten Universum wirkt, umfasst es auch die Menschenwelt. Harmonie der Menschen untereinander ist aber nur erreichbar, wenn sich der Einzelne dem dao anpasst. Lässt man seinem Gesetz freien Lauf ohne Reibung und Widerstand, bildet sich eine zwangfreie, klassenlose Urgemeinschaft. Aus der Realität, wie sie ist, gab es für den Daoisten also zwei Auswege: den des Einsiedlers und den der Sekte. Beide wurden im Verlauf der Geschichte immer wieder beschritten. Von Anfang an schloss der Daoismus magisches Denken und Volksreligiosität ein. Wahrsagerei, Götter- und Geisterglaube finden sich neben einem großen Erfahrungsschatz an praktischer Medizin und Naturbeobachtung. Es entwickelten sich Diätvorschriften, Atemtechnik, Meditation und sexuelle Praktiken, alle mit dem Ziel der Lebensverlängerung, ja der Unsterblichkeit.
Bereits gegen Ende der Han-Zeit waren gewisse Strömungen des Daoismus zu einer breiten Volksbewegung angeschwollen, die ihren Höhepunkt im Sektenaufstand der „Gelben Turbane“ fand. Erlösungsversprechen und Autoritätsfeindlichkeit des Daoismus hatten sich in einer gewaltsamen Eruption den Weg in die Realität gebahnt, ausgelöst von sozialer Not. Ein Vorgang, der sich bis in die Neuzeit noch oft wiederholen sollte. In den vier Jahrhunderten der Sechs-Dynastien-Zeit kristallisierten sich im Daoismus kirchliche Organisationsformen heraus mit Priestern, Klöstern, Liturgie und einer vielgestaltigen Götterwelt. Es geschah dies unter dem Einfluss einer fremden Religion und in Konkurrenz mit ihr: dem Buddhismus.