Der Linear-Stil der Nördlichen Wei
Was an den Steinskulpturen der Grottenheiligtümer nicht immer mit aller Deutlichkeit zu erkennen ist wegen der materialbedingten größeren Geschlossenheit der Form oder auch wegen der Brüchigkeit des Gesteins, das zeigen frei stehende Bronzen dieser Epoche: die bewegten Umrisslinien der Statuen, so wie sie in den Heiligtümern Aufstellung fanden. Auch vollplastische Bildwerke waren für die Anbeter nicht von allen Seiten sichtbar, sondern stets vor einen Nimbus oder eine Wand platziert. Sie waren von vorneherein so konzipiert, dass sich ihre Wirkung erst aus der Frontalsicht voll entfaltete.
Ein Meisterwerk der Bronzekunst
Die vergoldete Bronzestatue eines stehenden Buddhas des Metropolitan Museums, New York, die auf 477 datiert ist, wird gewöhnlich als Maitreya bezeichnet . Tatsächlich entspricht sie dem Typus des flankierenden Maitreya der Höhle 20 am Yungang. Allerdings hat sie keine anderen Erleuchtungsmerkmale als der Buddha Shakyamuni. Auch ist nicht bekannt, ob es sich ehemals um die Seitenfigur einer Dreiergruppe handelt mit Shakyamuni in der Mitte. Jedoch ist die Statue als Nebenfigur schwer vorstellbar. Abgesehen von ihrer technischen Perfektion strahlt sie eine Aura aus, die auf ihre Einmaligkeit hindeutet. Diese Wirkung beruht auf der überzeugenden Ausdruckskraft des Gesichts, der Körperhaltung und der Gestik. Es ist das Idealbild eines Erlösers, dessen von überindividuellem Gleichmaß geprägten Züge absolute innere Ruhe ausdrücken, dessen Lächeln Zuversicht verheißt, dessen Gebärde Vertrauen hervorruft. Von Kopf bis Fuß ist die Figur von Leben durchpulst, trotz strenger Formalisierung.
Das rundliche Antlitz mit der klaren, scharf geschnittenen Zeichnung von Augen, Nase und Mund, die Haltung der Hände mit den Gesten der Schutz- und Wunschgewährung, vor allem aber das Faltenspiel des Mönchgewands (san yi) zeigen ganz die Stilstufe der früheren Phase der Nord-Wei-Skulptur, die hier zu ihrer Reife gelangt ist. Noch ganz in indischer Weise zeichnen sich die Körperformen plastisch unter dem weiten Gewand ab. Wie bei dem Maitreya des Yungang bedeckt es beide Schultern. Die Faltenbahnen verlaufen identisch: als große U-Bögen über Brust und Bauch, als enge Bögen zwischen den Schenkeln, unter den Knien und um die Schienbeine. Als parallele Bahnen verlaufen sie entlang den Oberschenkeln abwärts bis zu den Knien. Die Falten besitzen keinerlei Stofflichkeit, sondern bilden ein abstraktes, rhythmisches Muster, das den Körperformen folgt und den frei von den Unterarmen herabhängenden Gewandbahnen. Es sind schmale, erhabene Stege, die durch vertiefte Linien in ihrem Ablauf betont und dynamisiert werden. Über den Knien, an Oberarmen und Schultern enden sie in den gleichen lanzettförmigen Spitzen wie die Faltenstege der Steinreliefs. Auf diese Weise ergießt sich über die gesamte Gestalt ein feiner Linienstrom. Dieser Binnenzeichnung entspricht eine ebenso bewegte Umrisszeichnung, die in großzügigem Rhythmus die Figur umspielt. Vom detailliert geformten Kopf führt die Umgrenzung von Schultern und Oberarmen in klarer, ununterbrochener Linie bis zu den angewinkelten Unterarmen und den Händen. Bei verwandten Bildnissen der Höhlenheiligtümer oder an Votivstelen treten die Hände nicht aus dem Körperumriss hervor. So befindet sich die erhobene Hand der Schutzgeste immer vor der Brust und die gesenkte Hand dicht am Körper. Dieser Buddha breitet die Hände so, als empfange er den, der vor ihn hintritt. Mit dieser Gebärde öffnet sich zugleich die geschlossene Silhouette der Hauptansicht. Vom rechten Handgelenk fällt das Obergewand in weitem Bogen weiter nach unten, vom linken in gerader Linie hinab bis zum Saum. Darunter schauen in zwei Stufen die Untergewänder hervor sowie Fußgelenke und Füße, die fest und gleichmäßig belastet auf einem Lotossockel stehen. Auf diese Weise nimmt die Figur eine gerade und aufrechte Haltung ein (samabangha). Sowohl der Saum des Obergewandes als auch die beiden Untergewänder sind in sorgfältig plissierte Falten gelegt, was ihre Oberfläche graphisch belebt und sie mit dem großen Faltenstrom zusammenschließt. Ihre dreifache Staffelung wird durch scharfe Rück- und Vorsprünge betont, sodass sich ein tief eingekerbtes Zickzackmuster bildet: die vorstehenden Gewandspitzen erinnern an Fischschwänze. Was sich hier andeutet und noch wie selbstverständlich erscheint, wird später zu einem wesentlichen Kennzeichen des Wei-Stils.
Die Haltung der Hände deutet abhaya (shi wu wei yin) und varada mudra (shi yuan yin) an, jedoch in leicht abgewandelter Form. Sie sind nicht streng nach oben und nach unten gerichtet, was bei ähnlichen Bildwerken den Eindruck einer gewissen Steifheit und Strenge hervorruft. Die Handhaltung ist natürlich und locker, die Hände sind sensibel und detailgenau gebildet. Nicht nur die schlanken, leicht gebogenen Finger und die Einkerbungen der Handinnenflächen sind wiedergegeben, sondern auch die Hautstege zwischen den Fingern, eines der „Merkmale eines Großen Mannes“ (maha purusha lakshana) siehe auch.
Skulpturen des Linear-Stils in Longmen
Die Betonung des Linienspiels und das Gewicht des Ornamentalen zeigt sich auch bereits an den Skulpturen der frühen Guyang-Höhle von Longmen, die schon Ende des 5. Jhds. angelegt wurde. Während die Gestalten der etwas jüngeren Mittleren Binyang-Höhle noch eine voluminöse Körperlichkeit aufweisen, sind die Buddhas und Begleitfiguren der Guyang deutlich verschlankt. Da die Arbeiten an dieser Höhle bis 528 andauerten, könnten die Skulpturen jünger sein, als die der Binyang-Höhle.
Ein sitzender Buddha der Guyang-Höhle
Ein Buddha mit zwei Begleitern in einer Nische dieser Höhle ist in der genau gleichen Haltung dargestellt wie der große Buddha der Binyang-Höhle . Wie dieser hat er sogar den Zeigefinger der linken Hand in varada mudra ausgestreckt. Auch die Anordnung der Mönchsgewänder ist nahezu identisch. Und dennoch setzen sich die Figuren klar voneinander ab. Nicht nur erscheint die Guyang-Figur zartgliedriger und höher gestreckt - und somit weniger monumental - sondern im Unterschied zu dem großen Buddha fällt das Gewand von den Knien abwärts in vielfach gefälteltem Geriesel über den Thronsitz und verbreitert sich dabei nach unten. Dieses dreifach geschichtete Plissee nimmt die gleiche Höhe ein wie der Oberkörper. Dessen Schultern fallen ab, der Hals ist schlanker, der Kopf schmaler, die Züge verfeinert.
Ein Maitreya auf dem Löwenthron
Die Wände der Guyang-Höhle und anderer zeitgleicher Grotten sind in derselben Weise in Nischen gegliedert wie die am Yungang und ebenfalls mit überreichem ornamentalen Schmuck versehen. In diesen Nischen sitzen Buddhas und Bodhisattvas in verschiedenen Haltungen und Gebärden. Besonders häufig erscheint auch hier die Erlöserfigur des Maitreya. Während er jedoch am Yungang noch in einer vollplastischen Körperlichkeit dargestellt ist in der typischen Sitzhaltung mit überkreuzten Beinen am Boden, als sei er im Begriff sich zu erheben, beginnt seine Gestalt nun mehr und mehr an Körperlichkeit zu verlieren .
Ein Maitreya auf dem Löwenthron (shi zi zuo) des Museums Rietberg, Zürich, der wahrscheinlich aus der Guyang-Höhle stammt und den dortigen Darstellungen entspricht, zeigt diese Tendenz in aller Deutlichkeit, trotz einer gewissen Verwaschenheit der Oberfläche . Und zwar sind es hier nicht die Faltenbahnen, die den Körper verhüllen - Gewand und Umhang sind in großen, vereinfachten Zügen angelegt - sondern es ist die Gestalt selbst, die so stark entkörperlicht ist, dass sie eher der abstrakten Chiffre einer menschlichen Figur gleicht. Der Maitreya hat die Rechte in abhaya mudra erhoben, die ausgestreckte Linke ruht auf dem Kopf eines der beiden Löwen. Eine hohe, zylindrische Krone schmückt das Haupt. Sie ist ebenso hoch wie das schmale Antlitz, das von ungewöhnlich langgestreckten Ohren eingeschlossen ist, die von der Krone bis zu den Schultern reichen. Sie betonen so das säulenhafte Emporwachsen von Kopf und Krone. Das Antlitz wird beherrscht von den hochgezogenen Bögen der Augenbrauen, die in einem feinen Nasenrücken zusammenlaufen. Die Augen unter den hohen Lidern sind fast geschlossen und wie im Lächeln zu kleinen Schlitzen zusammengezogen. Ihnen antwortet der wohlwollend lächelnde Mund. Zwei spitze Gewandzipfel über den Oberarmen stehen seitlich ab. Wie das herabhängende Schärpenende am rechten Ellenbogen und wie die Durchbrüche neben der überschlanken Taille dynamisieren sie die Umrisslinien und lassen die Gestalt noch unkörperlicher erscheinen. Die gekreuzten Beine sind lang und dünn, die Füße bis zu den Zehen spitzig überdehnt.
Ein geradezu „gotischer“ Charakterzug hat sich hier herausgebildet. Es mag sich darin eine Neigung zur Askese ausdrücken, zu einer Art Weltverleugnung, die im buddhistischen Denken angelegt ist, das ja der Sinnenwelt wirkliche Existenz abspricht.
Ein musizierendes Himmelswesen
So umschweben zwar auch in den von den Nördlichen Wei angelegten Longmen-Höhlen himmlische Wesen die heiligen Gestalten - Apsharas und Gandharvas, Himmelsnymphen und -musikanten. Diese im indischen Bereich sinnenfrohe und sinnenhaft dargestellten Geschöpfe sind hier nun jedoch von der gleichen Entkörperlichung erfasst, ohne aber asketisch zu wirken. Sie sind im Flug dargestellt und demonstrieren geradezu artistische Beweglichkeit. Eingehüllt in kurvige Stoffbahnen, sind die Körperformen kaum noch zu unterscheiden von den wehenden Gewandfalten, mit denen sie zu einem einzigen Bewegungsablauf verschmelzen. Oft wirken die Flachreliefs in ihrer bis in äußerste Feinheiten ziselierten Linienstruktur wie Druckstöcke von Holzschnitten.
Ein Gandharva aus Longmen im Victoria und Albert-Museum, London, stürzt geradezu in einem diagonalen Schwung von rechts oben herab . Das mehrfach durchbrochene Steinrelief mit seinen flatternden Umrisslinien ist von einer heftigen Dynamik durchpulst. Die von Wölkchen begleiteten, schräg aufwärts wehenden Faltenbahnen, durch mehrfache Wiederholung in ihrer Geschwindigkeit gesteigert, verdeutlichen den Abwärtsschwung. Er wird links aufgefangen durch die Körperbiegung und den angehobenen Kopf, dessen Gesicht frontal in angedeutetem Dreiviertelprofil erscheint, Angelpunkt der gesamten Komposition. Es zeigt den gleichen Gesichtstypus wie der Maitreya mit den geschwungenen Augenbrauenbögen, hohen Lidern, halb geschlossenen Augen und dem lächelnden Mund. Auch der Kopfputz, von einem Band gehalten, flattert nach oben. Das Himmelswesen spielt mit biegsamen, elegant gebogenen Händen ein lautenähnliches Instrument, die Pipa. Deren runder Klangkörper bildet unmittelbar unter dem Kopf ein Drehmoment, von dem aus der Lautenhals wiederum schräg nach rechts oben führt, parallel also mit dem Hauptstrom der Bewegung. Während Kopf und Oberkörper von vorne gesehen sind - Schultern und Arme entfalten sich in die Breite - ist der schlangenhaft gewundene Leib vom Bauch ab gedreht. Becken, der Ober- und der angezogene Unterschenkel sind in Seitenansicht gegeben. Die Füße dagegen treten hintereinander in den Faltenfluss eingebettet so hervor, dass nur ihre Sohlen sichtbar bleiben. Sie berühren fast wieder den Lautenhals. Dabei erscheint diese knochenlose Beweglichkeit vollkommen natürlich und wie selbstverständlich, leicht und locker, ganz dem Wesen solcher Luftgeschöpfe entsprechend.