Vorwort

Bereits als Schüler und später als Student durchquerte ich mit dem Fahrrad oder per Anhalter zunächst Deutschland, d. h. die damalige Bundesrepublik, und dann die Länder Westeuropas. Es waren die großen Werke der europäischen Kunst, die mich anzogen, die Architektur der verschiedenen Epochen und nicht zuletzt die Schöpfungen der bildenden Kunst in den Museen. Durch eigene Anschauung versuchte ich verstehen zu lernen, was im Studium von Kunstgeschichte und Archäologie nur theoretisch und mit Hilfe von Reproduktionen vermittelt wurde. Gelegentliche Exkursionen, wie sie während des Studiums üblich sind, genügten mir daher nicht.

Außer in den Spezialmuseen findet sich in vielen der großen Kunstsammlungen eine Abteilung für ostasiatische Kunst. So kam ich in Berührung mit dieser so andersgearteten Welt und stand bewundernd vor japanischen, koreanischen oder chinesischen Hängerollen ohne etwas darüber zu wissen. Diese Malerei faszinierte mich, die Reduzierung der Mittel im Gegensatz zu dem üppigen Gebrauch der Farbe in der europäischen Malerei, der scheinbar spielerische Umgang mit Tusche und Pinsel, wobei gewaltige Landschaftspanoramen entstanden oder eine Figur mit wenigen knappen Pinselzügen charakterisiert wurde. Solche Begegnungen ergaben sich nur selten und lange Zeit fand ich keine Gelegenheit, mich mit dieser Kunst zu befassen, doch stets empfand ich sie und die dahinter stehende Kultur als ein dunkles, geheimnisvolles und für uns noch unerforschtes Universum – und eine stille Herausforderung.

Noch als Student und später neben meiner freiberuflichen Tätigkeit arbeitete ich als Reiseleiter für verschiedene Reiseunternehmen, die auf wissenschaftliche Reisen spezialisiert waren. Zunächst tätig in Europa vertraute man mir allmählich auch Reisen in Länder anderer Kulturkreise an. Grundkenntnisse über die jeweilige Kultur mit dem Hauptaugenmerk auf Architektur und bildende Kunst gewann ich aus der Literatur, dem Studium der Sammlungen verschiedener Museen und indem ich, wenn möglich, die entsprechenden Gebiete zunächst allein bereiste.

Bei einer solchen Einarbeitung und danach bei den Führungen konnte ich mich auf meine Erfahrung gestalterischer Prozesse und der sich daraus ergebenden Sehweise stützen, sowie auf die kunsthistorische Betrachtungsweise wie ich sie im Studium erlernt hatte und deren Methodik ich nun auf die Kunst des entsprechenden Kulturkreises übertrug.

So kam ich1959 zum ersten Mal nach Indien. In den folgenden Jahren lernte ich auf diesen Studienreisen den Subkontinent und dessen Kultur, einzigartig in ihrer Vielfalt, immer besser kennen und lieben. Zwischen Sri Lanka und Nepal suchte ich den Reisenden die Eigenart dieser Kultur zu vermitteln soweit ich sie selbst verstand. Mein besonderes Interesse galt dem Beginn der indischen Kunst, die dem Buddhismus entsprang und der sich schon früh auch in China ausbreitete. Wenn auch die Beschäftigung mit dieser Lehre meinen Blick erneut auf China lenkte, so blieb der Buddhismus und die frühindische Kunst weiterhin im Zentrum meiner Studien. Dies war auch das Thema von Vortragsreisen in Deutschland und für das Goethe Institut in Indien und Sri Lanka, wo der Buddhismus die vorherrschende Religion ist.

Aufgrund meiner Erfahrungen in Indien erhielt ich den Auftrag, für die ARD einen Dokumentarfilm zu drehen, woraus später eine Sendereihe entstand: „Die Welt des Buddha“. Daraus wurde ein Buch über das gleiche Thema. So sehr ich mit diesem Stoff beschäftigt war – die geheime Herausforderung China spukte mir stets im Hinterkopf.

Einer Kultur und deren Kunst kann man sich am ehesten annähern, wenn man sich mit der Religion auseinandersetzt, aus der diese Kultur großenteils hervorgegangen ist. So wurde der Buddhismus zu einer Art Leitfaden, der mich zur buddhistischen Kunst Chinas führte und darüber hinaus zur erweiterten Betrachtung dieser Welt, in der ich erwachte wie Alice im Wunderland. Nüchtern gesagt: ich befasste mich nunmehr intensiv auch mit anderen Aspekten der Kultur Chinas, insbesondere mit der bildenden Kunst und der Architektur im Zusammenhang mit den religiösen und philosophischen Strömungen und der Geschichte des Landes.

Nach dem Tod Maoze Dongs 1976 hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, als Leiter einer Studiengruppe China zu bereisen. In den Jahren danach folgten weitere Reisen, auf denen ich mit Reisegruppen das Land nach allen Richtungen durchquerte. Je mehr ich davon kennenlernte, umso größer wurde meine Bewunderung und ebenso die schmerzliche Erkenntnis, wie lückenhaft mein Wissen von dieser Kultur war.

Zugleich war diese Erkenntnis Ansporn.

In diesen Jahren entstanden zahlreiche Zeichnungen und Skizzen sowie eine umfangreiche Fotodokumentation wichtiger Kunstwerke, im Wesentlichen von Architektur und Freiplastik. Endlich fühlte ich mich imstande, die Herausforderung anzunehmen und zu versuchen, einige Teilaspekte der ungeheuren Stofffülle darzustellen, welche die Kultur Chinas bietet. Mitte der achtziger Jahre begann ich eine Fernsehserie für die ARD zu drehen, die sich mit dem Totenkult und später mit der Sakralarchitektur Chinas befasste. Für die Deutsche Welle entstand ein Abriss der Geschichte Chinas.

Ein Buchprojekt mit dem Prestel-Verlag, München, über eine Gesamtdarstellung der Kunst Chinas scheiterte. Ich konnte weder den vorgesehenen Seitenumfang noch den Zeitrahmen einhalten. Beim Schreiben wurde mir klar, dass ich weit mehr Zeit brauchen würde. Es wurden fast 40 Jahre.

In dieser Zeit begleitete mich das gewaltige Thema neben meiner sonstigen Arbeit, allerdings mit zahlreichen Unterbrechungen. Gewöhnlich schrieb ich vormittags und ging nachmittags ins Atelier oder in die Werkstatt. Anschauung und möglichst genaue Beschreibung jedes einzelnen der ausgesuchten Werke und seiner Zusammenhänge war mein Versuch, ein tieferes Verständnis zu erlangen. Ich suchte zu erfassen, was ich die „innere Gestalt“ eines Kunstwerks nenne, nämlich alle denkbaren Einflüsse, welche zusammenfließen und seine äußere, anschaubare Gestalt prägen. Das bedeutete aber auch die Beschreibung hunderter Werke und über die Jahre neue Erkenntnisse, die zu ergänzen waren. Natürlich sollte jedes der beschriebenen Werke in einer geplanten Publikation abgebildet werden. Dazu war kein Kunstverlag bereit. Verständlicherweise, denn mittlerweile waren Text und Abbildungen zu einem „Mammutwerk“ angewachsen, wie ein Verleger anmerkte.

Auf meine Bitte erstellten zwei Experten unabhängig voneinander ein Gutachten. Ich gestatte mir, den jeweiligen Schlusssatz zu zitieren:

„Zusammenfassend möchte ich sagen, dass das Buch von Bernd Rosenheim nach meinem Wissen eine bisher in dieser Weise noch nie formulierte Darstellung des Gesamtkomplexes chinesischer Kunst für unterschiedliche Leser bietet.“

(Prof. Dr. Roger Goepper, Museumsdirektor i. R. des Museums für Ostasiatische Kunst, Köln und Kunsthistorisches Institut der Universität zu Köln)

„Es gibt kein auf Deutsch geschriebenes Werk über chinesische Kunst, das demjenigen von Herrn Rosenheim in der Fülle des Materials und der Intensität der Darstellung vergleichbar wäre.“

(Prof. Dr. Lothar Ledderose, Universität Heidelberg, Kunsthistorisches Institut, Ostasiatische Abteilung)

Auch diese Gutachten halfen nicht weiter. Darauf entschloss ich mich, das Werk im Internet zu veröffentlichen mit freiem Zugang für jedermann.

Bernd Rosenheim

Michelstadt, im Mai 2023