Malerei
Im Vergleich mit den anderen Künsten ist von der Malerei der Epoche nur wenig erhalten geblieben, zumeist ist es eher von kunsthandwerklichem Niveau. Einige Beispiele jedoch lassen erahnen, welcher Reichtum an künstlerischem Ausdrucksvermögen verlorengegangen ist. Nach literarischen Zeugnissen waren die kaiserlichen Paläste mit Wandbildern geschmückt. Wu di (140-86 v. Chr.) ließ Himmels- und Erdgötter des daoistischen Pantheons in einem Turm seines Palastes darstellen. Unter Xuan di (73-48 v. Chr.) zierten die Gestalten der tugendhaften und der schlechten Herrscher vergangener Zeiten die West-Halle des Palastes. Sie sollten belehren, von schlimmen Taten abschrecken, zu sittlichem Handeln leiten.
Auch ließ er im Qi lin-Pavillon von Changan elf Minister-Bildnisse an die Wände malen, nach anderen Quellen waren es 28. Die Anzahl solcher Darstellungen spielte eine erhebliche Rolle in der Zahlenmystik des altchinesischen Denkens. Von Ming di (58-76 n. Chr.) wird berichtet, dass er im Pavillon der Wolkenterrasse des südlichen Palastes von Luoyang 32 seiner Generäle abbilden ließ.
Schon die Kaiser der Westlichen Han-Dynastie begannen, Kunstsammlungen anzulegen. Sie begründeten damit die große Tradition der chinesischen Altertumssammlungen, worin alle Art Kunstgegenstände Platz fanden, nicht zuletzt die jeweils zeitgenössische Malerei. Diesem Interesse entsprang ein bedeutendes Mäzenatentum, das oft stark von den unterschiedlichen Neigungen und dem Geschmack der Herrscher abhing, und dem sich zumindest die bei Hof angestellten Künstler zu unterwerfen hatten. Gewiss bestand aber auch eine Wechselbeziehung insofern, als manche Künstler auch den Geschmack des Herrschers beeinflussten. Die kaiserliche Kunstförderung führte schon im 2. Jhd. v. Chr. zu Akademie-Gründungen mit dem Ziel, die besten Künstler des Landes zusammenzubringen, so die Hongta-Akademie unter Wu di (140-86 v. Chr.). Zur Regierungszeit Zheng di’s (32-6 v. Chr.) wurde ein Amt für Malerei und Schriftrollen etabliert.
Die kaiserliche Sammlertätigkeit muss, aufbauend auf den Sammlungen der jeweiligen Vorgänger, riesige Kollektionen zusammengebracht haben. Diese Konzentration von Kunstschätzen in den Großstädten hatte ihre katastrophale Kehrseite. Bei Feuerbrünsten oder Eroberungen der Hauptstädte wurden Kunstwerke zu Hunderttausenden vernichtet. Während einer Plünderung Luoyang’s im Jahre 190 n. Chr. sollen die Eroberer Seidengemälde als Rucksäcke benutzt oder Zelte daraus gebaut haben. Eine Kolonne von etwa 70 Wagen hochbeladen mit Kunstwerken ging damals großenteils verloren.
Beim Fall Nankings im Jahre 553 ließ der unterlegene Kaiser Yuan der Liang-Dynastie 240.000 Schrift- und Gemälderollen verbrennen, um sie nicht in die Hände des Feindes fallen zu lassen.
Bei dem überwiegenden Teil der Bildrollen aus der Han-Zeit dürfte es sich um Malerei auf Seide gehandelt haben. Zwar ist die Erfindung des Papiers durch den Eunuchen Cai Lun im Jahre 105 n. Chr. überliefert, doch ist erst aus späterer Zeit Malerei auf Papier bekannt. Auch wissen wir nicht, welcher Art die „freie“ Malerei war, die sich in den Sammlungen befand. Vermutlich wurden vorwiegend literarische, moralisch belehrende und religiöse Themen abgehandelt. Was von der Han-Malerei erhalten ist, entstammt den „angewandten“ Künsten: Grabmalereien, bemalte Tonziegel, Keramik, Lackarbeiten und Totenbanner.
Die stilistische Auffassung entspricht den Ritzzeichnungen oder Flachreliefs auf Tonziegeln und an steinernen Grabkammern. Es ist eine Stilhaltung von unverwechselbar eigenem Charakter bei gewissen regionalen Verschiedenheiten. Kennzeichnend für die Komposition ist die Vorliebe für ein Aufreihen von Figuren nebeneinander, gleichsam im Sinne der Abwicklung einer Erzählung oder eines Aufzählens .
Die hervorstechendste Eigenart des Figurenstils ist die Betonung der Silhouette. Die gerundeten Formen sind von innen heraus mit prallem Leben erfüllt und von äußerster Dynamik. Künstlerisches Hauptthema ist die Bewegung. Die Zeichnung, im wesentlichen die Umrisszeichnung also, suggeriert ein Volumen, das von Atem angefüllt scheint. Ihr gesamter Duktus ist kurvig. Die Linie wirkt gespannt wie ein Bogen . Diese Merkmale lassen sich schon in den ältesten bisher bekannten Grabmalereien beobachten.
Grabmalereien von Shaogou
Im Ziegelkammergrab von Shaogou, Luoyang (Provinz Henan) sind auf einer Trennwand, welche den Giebel in der Mitte der Hauptkammer ausfüllt, mythologische Tiere und Szenen dargestellt. Die Wandscheibe besteht aus zwei filigran durchbrochenen Tonplatten, einer rechteckigen in der Mitte und zwei dreieckigen an beiden Seiten. Das Mittelfeld zeigt die Symboltiere der Himmelsrichtungen: links den Drachen des Ostens, rechts den Tiger des Westens, beide Tiere hoch aufgerichtet. Oben der Phönix des Südens und unten türmt sich ein schwer erkennbares Gebilde auf. An dieser Stelle tritt in anderen Darstellungen dieser Art die Schildkröte auf in seltsamer Symbiose mit der Schlange: Verkörperung des Nordens. Etwa in der Feldmitte zu Seiten des unkenntlichen Wesens, halten zwei menschliche Gestalten jeweils eine Bi-Scheibe, flache Ringe, die den runden Himmel symbolisieren. Über ihnen links ein geflügeltes Raubtier und rechts ein vierschrötiger Riese. Vielleicht ist es Qi yu, der einst gegen Huangdi, den ersten der fünf mythischen Kaiser revoltierte und ihm die Herrschaft streitig machte. In den oberen Ecken sind links ein Leopard zu sehen und rechts eine Kröte, Symbol des Mondes. Wenn auch nicht gänzlich zu entschlüsseln, so ist doch eine kosmologische Symbolik erkennbar sowie Hinweise auf Schöpfungsmythen.
Die symmetrisch angeordnete Komposition der Seitenpaneele bewegt sich auf das Mittelfeld zu und bezieht sich auch thematisch darauf. Hier suchen dämonenhafte, kraftstrotzende Mannsgestalten mit grotesk übersteigerten Ausfallbewegungen geflügelte Pferde zu ergreifen. Wolfsköpfige Dämonen und Bären langen nach aufgehängten Bi-Scheiben. In den oberen Zwickeln der beiden Dreiecke schweben geflügelte Hirsche. Die andere Seite der Giebelfüllung zeigt tao tie-Masken und Drachenreiter, vielleicht die Seelen Verstorbener auf der Reise ins Jenseits. Der äußerst bewegte Ornamentstil erinnert besonders in den Tierdarstellungen an die Kunst nördlicher Steppenvölker, deren Formen immer wieder chinesische Künstler anregten. Der Architrav unter den Giebelfeldern ist mit Malereien versehen, welche Heldenlegenden erzählen . Die Figuren sind ohne Tiefenstaffelung nebeneinander aufgereiht und kommunizieren untereinander durch ihre Bewegung. Mitunter nehmen sie eine stark pantomimische Gestik an, wenn etwa zwei Helden miteinander in Streit geraten und mit auftrumpfendem Gehabe zu den Schwertern greifen.
Die gebauschten und aufgeblähten Gewandformen, die so typisch sind für den Han-Stil, werden hier zu Ausdrucksträgern heftiger Erregung, die sich mit theatralischer Pose darstellt.
Eine der friesartigen Kompositionen zeigt in der Mitte die fragmentarische Gestalt eines bärenköpfigen Ungeheuers das etwas mit seinen behaarten Pranken gepackt hält, anscheinend um es zu verschlingen. Von beiden Seiten nähern sich bewaffnete Männer, würdevoll oder grobschlächtig, während andere am Boden sitzen wie bei einem Gelage. Im Hintergrund deuten großzügige Kurvaturen Berge an. Sie sind mit sehr breiten Pinselzügen gesetzt, deren Schwarz von einer helleren Violett-Lavierung begleitet wird, Andeutung von körperhafter Wölbung.
An anderer Stelle sind Bäume ebenso kürzelhaft angedeutet. In den Ästen eines dieser Bäume ist eine Frauengestalt mit den Haaren aufgehängt, während ein Tiger sie anfällt. Es ist die Göttin Ba, die Personifikation der Dürre. Einst half sie Huang di, dem Gelben Kaiser, im Kampf um die kosmische Ordnung gegen den Aufrührer Qi yu, der mit Wolken und Sintflut die Welt zu überschwemmen drohte. Als der Rebell besiegt war, wurde sie selbst zur Bedrohung und die Erde war in Gefahr, zu verdorren. Der Kampf gegen sie dauert noch heute an. Der Tiger, der mit ihr kämpft, vertritt hier das männliche Prinzip, das yang, während Ba das weibliche Element yin darstellt.
Als Verkörperung des yang erscheint mehrfach auch der Widder in der Malerei dieses Grabes. Über dem Eingang tritt der Widderkopf sogar vollplastisch aus seiner gemalten Umgebung . Der Realismus des Tierschädels wirkt frappierend, ja er gewinnt magische Wirkung im Umfeld dieser anaturalistischen Malweise. Die Farben braun-violett, ocker, gelb, rot lassen noch heute eine Frische und Unmittelbarkeit ahnen, die an ein flüssig und flächig aufgetragenes Aquarell erinnern. Von der gleichen Frische und Verve ist die Pinselführung der Tuschelinie.
Der im Wesentlichen zeichnerische Charakter der chinesischen Malerei drückt sich hier bereits aus. Mit knappen, aber schwungvollen Pinselzügen, die wie hingeschrieben wirken, sind Ausdruck und Haltung erfasst, alles mit einem Zug zur karikierenden Abkürzung und Übertreibung.
Was diesen Malstil mit den Reliefs verbindet, ist das Streben nach Ausdruck vermittels der Gestik, nach Dynamik und Volumen - in den Reliefs erreicht durch prall gerundete Formen - ohne aus der Flächigkeit des Bildgrundes herauszutreten. Die oftmals heftige Gebärdensprache wirkt, als sei sie von Pantomime oder Theater inspiriert.
Grabmalereien von Wangdu
In einem der schon beschriebenen Ziegelkammergräber von Wangdu (Prov. Henan) sind an den Seitenwänden der großen Vorkammer 28 Hofbeamte und Bediente des Toten abgebildet, vermutlich eines Gouverneurs. Die Zahl 28 erscheint immer wieder.
Aus den Kaiserpalästen in Changan und Luoyang wird von Bilderzyklen berichtet, welche 28 große Staatsmänner darstellten. 28 Sternbilder und Konstellationen sind aus der Astronomie bekannt, und in der Kunst wurden sie verschiedentlich dargestellt wie im Grab von Shixian, Prov. Hubei oder auf der Querrolle des Zhang Songyou siehe auch.
Vermutlich liegt hier der Gedanke einer kosmologischen Parallele zugrunde: wie die Sternbilder die Sonne, so umkreisen Minister, Beamte und Dienerschaft ihren Herrn.
Rang und Zuständigkeit sind neben ihren Köpfen vermerkt . In ehrfurchtsvoller Grußhaltung, die vor die Brust erhobenen Hände in den weiten Ärmeln versteckt oder ein Hu-Täfelchen hochhaltend, richten sie ihre Blicke nach Norden zur Grabkammer. Die Fußstellung der Diener scheint anzudeuten, dass sie sich vorwärtsbewegen . Hinter ihnen sind lanzentragende Wächter stehend dargestellt . Es ist daher nicht klar zu entscheiden, ob es sich um eine Prozession oder um ein Ehrenspalier handelt, was im späteren Grabkult eine wichtige Rolle spielen wird. Wie in den Reliefs stehen die Figuren nicht einfach in einer Linie nebeneinander, sondern einige sind etwas höher gesetzt: Andeutung einer Tiefenstaffelung. Kopf und Gestalt werden im Dreiviertelprofil gezeigt, wodurch der Eindruck einer gewissen Körperlichkeit erzielt wird. Die flächige Farbe, hier vorwiegend Blau, Gelb und Rot, ist auch hier der Zeichnung untergeordnet. Ihre lebendige Linienführung wechselt zwischen einer feinen Tuschespur und Gewandfalten aus breiten schwarzen Pinselzügen, die einen kalligraphischen Duktus ergeben.
Beziehungsreich sind auch die allegorischen Tierbilder des Grabes: ein Schaf in Verbindung mit einem Weingefäß drückt Geschenke an einen hohen Beamten aus, ein Damhirsch reiche Einnahmen und der weiße Mondhase, der das Kraut der Unsterblichkeit stampft, den Wunsch eines ewigen Lebens für den Toten.
Grabmalereien von Liaoyang
In einem Grab von Liaoyang (prov. Liaoning) aus dem 2. Jhd. n. Chr. befinden sich Wandmalereien, welche Kompositions- und Raumauffassung der Han in typischer Weise widerspiegeln, obwohl die Provinz weit abgelegen war vom politischen und also auch kulturellen Zentrum des Reiches.
Hier bewegt sich eine Wagenkolonne mit Würdenträgern nach links, von Reitern und Fußsoldaten begleitet . Beide Gruppen sind in zwei Reihen angeordnet, wobei zwischen den Wagen noch einzelne Reiter dahersprengen. Vor einem der Gefährte galoppieren mehrere Reiter, die übereinander geordnet sind, sich aber überschneiden, als sähe man sie von oben. Die Köpfe der Reiter und Wagenführer sind im Dreiviertelprofil gegeben, ebenso die Karren und deren zwei Räder, sodass das hintere Rad etwas links von dem vorderen herausschaut: eine leichte Andeutung von Volumen. Pferde und die Körper der Reiter werden im Profil gezeigt. Die rhythmisch aufgereihten Pferde über den Wagen sind von gleicher Größe wie die unteren, ja einige sogar etwas größer. Das heißt: Raumtiefe wird weder dargestellt noch angestrebt, auch nicht in einer Andeutung von Landschaft. Die Figuren scheinen über die Wandfläche zu schweben. Und Flächigkeit im Zusammenspiel mit einer schwungvollen Zeichnung dominiert. Die unterschiedlichen Tonwerte der Pferdeleiber, die Gewänder und Schirme über den Wagen sind frei und locker gesetzt.
Was aber vor allem ins Auge springt, ist die unglaubliche Bewegungsvielfalt der Pferde. Keine Haltung wiederholt sich. Sie werfen die Köpfe hoch, bäumen sich auf, eines wendet den Kopf nach hinten im vollen Galopp, sodass sein Reiter Gefahr läuft, vornüberzustürzen: sein Kopf schaut hinter dem Pferdehals hervor . Die Freude an lebensvoller Bewegtheit, gewiss auch an der anschaulichen Schilderung temperamentvoller Rassepferde, führt zu expressiver Übersteigerung. Diese Kunst ist fern von jedem Naturalismus.
Obwohl also weit entfernt vom kulturellen Mittelpunkt, zeigt diese Malerei die gleiche Stilhaltung wie die in dem Luoyang-Grab, nur mit noch größerer Heftigkeit und einem Sinn für „Geschwindigkeit“, so, wie ihn in der Skulptur das berühmte „fliegende“ Pferd manifestiert siehe auch. Im gleichen Grab sind die Gäste einer Totenfeier, sowie Musikanten, Gaukler, Seiltänzer, Jongleure und Schwerttänzer rings um eine Kesselpauke und neben einem Turm dargestellt. Sie traten zu Ehren des Toten auf. Auch hier interessiert den Maler hauptsächlich die Bewegung der Figuren, die allerdings meist wenig geglückt sind.
Malerei auf Tonziegeln
Auf Tonziegeln aus dem 2. Jhd. n. Chr. des Boston Museum of Fine Arts, sind Hofdamen und Würdenträger abgebildet . Wenn auch die persönliche Handschrift des Malers von den beschriebenen Malereien differiert, so kennzeichnet die grundsätzlich gleiche Auffassung den Zeitstil: die Beweglichkeit der Figuren, die in den unterschiedlichsten Drehungen und Wendungen gezeigt werden vor einer unräumlichen Leerfläche. Die silhouettenhafte Anlage der Gestalten, das schwungvolle Spiel der schwarzen Tuschezeichnung, die sich verstärkt oder zu feinem Lineament verdünnt, je nach Notwendigkeit des anzudeutenden Volumens. Dadurch und durch die wechselnden Körperdrehungen entsteht eine gewisse Reliefwirkung, ohne aber Räumlichkeit zu gewinnen, zumal die Figuren nebeneinander aufgereiht sind, ohne sich zu überschneiden.
Die summarisch abkürzende Charakterisierung der Gesichter in Typus und Ausdruck, die hier hinzutritt, besitzt die Treffsicherheit von Karikaturen. Man glaubt, die stark sprechende Gestik so gut zu verstehen, als wohne man der Aufführung einer Pantomime bei.
Der Korb von Lolang
Eines der besterhaltenen Beispiele von Han-Malerei zeigt zugleich den hohen Stand der Lackkunst, die damals schon eine lange Tradition besaß. Es handelt sich um einen kleinen, nur 30 cm langen Weidenkorb, dessen Ränder und Oberteil mit einer geschlossenen Lackschicht überzogen und mit Lackmalereien versehen sind . Man fand ihn in einem Han-Grab bei Lolang, der Hauptstadt der damaligen chinesischen Militär-Kolonie in Korea, nahe dem heutigen Pyongyang. Vermutlich stammt der Korb aus Sichuan wie andere in Lolang aufgefundenen Lackgegenstände, die laut Inschriften zwischen 85 v. Chr. und 71 n. Chr. entstanden sind.
Dargestellt ist das alte konfuzianische Thema der vorbildlichen Kindesliebe in 38 winzigen Figürchen. Sie sind in einer bravourösen Mal-Technik ausgeführt, die umso höher zu bewerten ist, als sie in einem so zähen Material wie dem Lack realisiert wurde, ohne im mindesten an Lebendigkeit und Lockerheit zu verlieren.
Die Namen der Protagonisten sind neben ihnen vermerkt. Eine Szene schildert, wie Xing Chu seinem zahnlosen Vater eine Speise zum Munde führt, die er selbst vorgekaut hat. Wiederum finden wir die abkürzende Darstellung in knappen Linien ohne jedes überflüssige Detail: Vater und Sohn knien sich gegenüber, dem Betrachter in Dreiviertelansicht zugewandt. Die Hände auf die Knie gestützt, beugt sich der Alte nach vorne. Mit geschlossenen Augen und geöffnetem Mund erwartet er den Bissen mit dem Ausdruck hingebungsvoller Vorfreude. Der pietätvolle Sohn neigt sich dem Vater entgegen, in der erhobenen Rechten das Speisestäbchen, in der Linken die Schale. Aus seinem rundlichen Gesicht sprechen die weit offenen Augen und die hochgezogenen Brauen von seiner vollen Aufmerksamkeit. Sein kleiner Mund ist geöffnet, als teile er den Vorgeschmack mit dem Vater. Die kleine Szene zeugt von Einfühlung und genauer Menschenbeobachtung und ist durchdrungen von einem köstlichen Humor.
Sie ist Teil des Frieses am oberen Korbaufsatz, worin alle Figuren sitzend oder knieend dargestellt sind. Nur an den Seitenkanten des unteren Korbteils stehen sich jeweils zwei Akteure in verschiedenen Haltungen gegenüber. Die Sitzfiguren sind nebeneinander aufgereiht und zeigen wiederum vielfache Ansichten, Drehungen und Bewegungen, dazu eine lebhafte Gestik und sprechenden Gesichtsausdruck: eine Gesellschaft vornehmer Herren in angeregtem Disput.
Durch den Rhythmus der Körperhaltungen, des Hin- und Abwendens, sind die Gestalten in einem Zusammenhang gebracht, der den Eindruck entstehen lässt, man befände sich vor einer kleinen Bühne. Dennoch werden hier verschiedene Szenen „gleichzeitig“ und im gleichen „Raum“ erzählt. Das bedeutet, dass hier kein zeitlicher Ablauf dargestellt wird. Und ebenso wenig wird Raumdarstellung versucht. Nicht einmal der schräg gestellte Wandschirm erzeugt auch nur die Andeutung von Raumtiefe, sondern er bildet mit den übrigen Figuren ein Spiel von farbigen Silhouetten, in Violett-, Rosa-, Braun- und Ockertönen vor der schwarzen Grundfläche. Dieser Hintergrund wird noch dadurch nach vorne gerückt, dass die Leerflächen zwischen den Gestalten ausgefüllt sind mit hellen Schriftzeichen, kleinen Dekormotiven und Schnüren, die von einem gerafften Vorhang herabhängen. Dieser Vorhang verstärkt den Bühneneindruck, jedoch nicht den einer Guckkastenbühne mit einem Tiefenraum, sondern den eines Schattenspiels oder eines Silhouetten-Theaters. Die Drehungen und Verkürzungen der Figuren, das schwungvolle Kurvenspiel ihrer Gewandfalten erzeugt allenfalls den Eindruck eines sehr flachen Reliefs, im wesentlichen aber den eines flächenhaften Ornaments. Der näher gerückte „Bühnenhintergrund“ lässt kaum Raum für körperhafte Entfaltung.