Die Höhlen von Longmen
Im Jahre 494 verlegten die Nördlichen Wei ihre Hauptstadt nach Luoyang, der alten Kapitale der Östlichen Han und der früheren Wei. Im Unterschied zu Datong lag die Stadt mehr im Zentrum des Machtbereichs der Nord-Wei. Sofort begann man eine Gruppe von Höhlentempeln am Steilufer des Yi-Flusses anzulegen, dessen Verengung an dieser Stelle „Drachentor“ genannt wird, „Longmen“. Die Arbeiten am Yungang, wo insgesamt über vierzig Höhlen entstanden, versiegten und wurden erst Jahrzehnte später wieder aufgenommen. Die Stiftungen wohlhabender Anhänger des Buddhismus konzentrierten sich nun am Longmen. Über Jahrhunderte fanden sich immer wieder kaiserliche und adelige Stifter, oft in Zusammenschlüssen mehrerer Familien, welche die heilbringende Ausgestaltung der Kultstätte vorantrieben. Bis in die Song-Zeit entstanden ca. 2.000 Höhlen und Nischen mit mehr als 97.000 Skulpturen.
Waren bereits die Skulpturen der späteren Phase des Yungang verfeinerter und schlanker als die der Frühphase, so setzte nun ein Wandel ein, hin zu einer Entkörperlichung der Heilsgestalten. Es spricht alles dafür, dass diese Veränderungen auf den Einfluss ortsansässiger Künstlergilden zurückgehen, welche in der hochkultivierten Atmosphäre der alten Reichsmetropole die Tradition der Han-Kunst aufrecht erhalten und auf das buddhistische Bildprogramm übertragen hatten. Ein Kollektivstil, wie er nun auch hier entstand, konnte nur von einer organisierten Vereinigung einheitlich geschulter Künstler entwickelt werden, welche allein imstande ist, eine so gewaltige Aufgabe zu bewältigen, wie sie hier gestellt war. Zwar gilt die sakrale Funktion einer Kultplastik als gewährleistet, wenn die von der Geistlichkeit erlassenen Regeln eingehalten sind. Doch betrifft dies die rein inhaltliche Seite, also die lkonographie des Bildwerks. Ausdruck und Gestaltung hängen von den Fähigkeiten der Künstler ab, von ihren Neigungen, ihren Traditionen und den Einflüssen, denen sie sich öffnen. Sie formen den Stil.
Der große Buddha der Binyang-Höhle
Schon die Skulpturen der älteren Höhlen von Longmen zeigen eine deutliche Veränderung gegenüber dem Yungang. Der zentrale, acht Meter hohe Buddha der Mittleren Binyang-Höhle, die etwa um 500 begonnen wurde, ist blockhaft zusammengefasst und geradezu architektonisch gegliedert . Die im Lotossitz übereinander gelegten Beine bilden mit dem von zwei Löwen bewachten Thron einen horizontalen Rechteckblock. Rumpf und Oberarme sind beinahe zu einem Quadrat zusammengeschlossen, wobei die Schultern nicht mehr die schwellende, breite Wölbung zeigen wie bei dem Shakyamuni der Höhle 20 am Yungang. Sie sind nun schmaler und fallen leicht ab. Der mächtige Kopf auf dem säulenhaften Hals ist als länglicher, kubischer Block aufgebaut. Dabei sind Wangen, Kinn und Stirn, sowie der breite, wie ein Haarbausch wirkende Schädelauswuchs plastisch gerundet. In spannungsvollem Gegensatz dazu stehen die scharf geschnittenen Züge: die hohen Bögen der Augenbrauen, die schmalen Augenschlitze, der feine Steg des Nasenrückens, der lächelnde Mund.
Noch sind die Formen körperhaft und in sanften Rundungen modelliert. Kopf und Leib, die gewaltigen Hände mit den Schutz- und Wunscherfüllungsgesten und der frei liegende Fuß sind von voluminöser Plastizität. Doch die pralle Körperlichkeit der Yungang-Figuren ist zurückgenommen. Die Körpergestalt beginnt nun unter schweren, kurvigen Gewandbahnen mehr und mehr zurückzutreten.