Die unterirdische Armee
Seit 2.200 Jahren sichert diese Armee, in Schlachtordnung aufgestellt, das Kaisergrab . In Unterständen von 200 Metern Länge steht das Gros der Armee in elf Marschkolonnen kampfbereit wie nach einem strategischen Lehrbuch: die Flanken sind gesichert durch den Wei-Fluss im Norden und den Berg Li im Süden. Den Feind erwarten sie von Osten. Es ist erstaunlich, dass das Grab nicht nach Westen gesichert sein sollte, von wo, genau wie von Norden, stets die Barbarengefahr drohte. Man darf die Hypothese wagen, dass der Kaiser dort eine weitere Streitmacht zumindest geplant hat. Ist schon die Menge der Tonfiguren unglaubhaft, wäre sie nicht erwiesen, so ist es die Ausführung der einzelnen Skulpturen erst recht. Das Gesicht eines jeden Soldaten ist individuell modelliert, als sei hier eine ganze Armee porträtiert worden . Alles zielte darauf ab, Lebensnähe zu erzeugen, nicht zuletzt mit Hilfe von Bemalung. Rüstungen und Uniformen lassen Rang und Truppenteil erkennen . Der Realismus der Streitenden Reiche ist übertroffen. Was aber die Kunst der Qin abhebt von allen vorherigen Schöpfungen: zum ersten Mal gelingt die Gestaltung eines ausgereiften Menschenbildes.
Die Soldaten trugen echte Waffen, jedoch keine Schilde. Ihr Vorbild, das Qin-Heer, war auf Beweglichkeit und schnelle Reaktion gedrillt: Kennzeichen einer schlagkräftigen Angriffsarmee. Die Individualität der Krieger ist eingeschmolzen in ein präzise funktionierendes Kollektiv von eiserner Disziplin. Ungehorsam wurde beim Qin-Heer sofort mit dem Tode bestraft.
Man fand vierspännige Streitwagen, Kavalleristen mit gesattelten Schlachtrossen, knieende und stehende Bogenschützen , Lanzenträger.
Die geradezu fanatische Detailtreue ist bis in kleinste Einzelheiten durchgehalten. So ist zum Beispiel bei den knieenden Bogenschützen sogar das rutschfeste Profil der Schuhsohlen genau abgebildet. Haltung und Gesichtsausdruck wirken gelassen, zugleich aber innerlich gestrafft und konzentriert.
Die unvorstellbare Menge von Plastiken setzt eine Industrie voraus, die allein für diesen Auftrag arbeitete. Ein Heer von Künstlern war dazu notwendig.
Für uns stellt diese Streitmacht ein einzigartiges Gesamtkunstwerk dar. Allein, der Kaiser wollte kein Kunstwerk schaffen, noch ein Werk der Repräsentation. Er schuf ein Werk der Magie. Die Körper dieser Krieger waren beständiger als die geopferten Menschen. Im wahrsten Sinne des Wortes handelt es sich hierbei um „magischen Realismus“. Denn mit Hilfe dieser „Geisterarmee“ wollte der Kaiser dem Jenseits ewiges Leben abzwingen. Schon zu seinen Lebzeiten war er auf der Suche nach einem Ewigkeitselixier gewesen.
Diese Realitätsbesessenheit des Kaisers war stilbildend. So gewann jede einzelne dieser Tonplastiken künstlerischen Rang und jeweils einen eigenen Charakter . Nur selten erreichte die chinesische Kunst solche Wirklichkeitsnähe, solche Lebendigkeit mit wenigen Mitteln, eine solche Plastizität einfacher Volumen. Auf alles dekorative Beiwerk wird verzichtet. Allein die natürlichen Details geben plastische Differenzierung. So ist jede Haarsträhne dargestellt, der Haarknoten zu einem kunstvollen Gebilde modelliert: Umwandlung der Naturform in gestaltete Plastik .
Im Wirken des Ersten Kaisers von China zeigt sich die Ambivalenz der Macht. Mit blutiger Gewalt zwang er ein Reich zusammen. Zugleich aber gelang es ihm, die schöpferischen Kräfte seines Volkes zu wecken und seine künstlerischen Potenzen zur Entfaltung zu bringen. Damit gestaltete er die kurze Epoche seiner Dynastie zu einer der bedeutendsten der chinesischen Kunstgeschichte. Dies verlieh seinem Wirken Dauer über das Grab hinaus und erfüllte so in einem anderen Sinn sein Ewigkeitsstreben.