Weltsicht der Han-Künstler

Zeit und Raum waren offenbar noch außerhalb des gestaltenden Bewusstseins der Han-Künstler. Raumdarstellung - und im übertragenen Sinne Zeitdarstellung - sind keine Probleme der künstlerischen Technik - die stellt sich von selbst ein - sondern des künstlerischen Bewusstseins, mithin des Weltverständnisses, das einer Epoche oder einer Kultur in großen Zügen gemeinsam ist. Dieses kollektive Bewusstsein spiegelt sich unverfälscht in der künstlerischen Sprache, das heißt im „Wie“ des Werkes, weit mehr als im Thema, im „Was“. Dem archaischen Bewusstsein liegen die Dinge der Welt nahe. Das Erlebnis des unvermittelten Hier und Jetzt bestimmt eine Sichtweise, welche das bunte Leben in gleichbleibender Wiederholung erfährt, ohne perspektivische Tiefe von Raum und Zeit, gleich dem farbigen Muster eines Teppichs.

Diese Grundanschauung hatte im konfuzianischen Denken eine ideologische Entsprechung, welche alle Sphären des Lebens durchdrang: der Glaube an eine statisch geordnete Welt mit festen Normen und unverrückbaren Regeln. Ihrer Struktur nach ist eine solche Weltansicht zweidimensional. Sie ermöglicht keinen anderen Standpunkt. Erst eine Weltanschauung, welche einen gewissen Subjektivismus zulässt, gewinnt Dreidimensionalität. Dies geschah später mit der Auflösung des alten konfuzianischen Systems und dem Schwinden einer gesicherten Weltordnung zur Zeit der Fünf Dynastien. Just zu jener Zeit bildete sich die Landschaftsmalerei heraus. Der Naturbegriff, wie er sich damals in der Malerei ausdrückte, war zur Han-Zeit in dieser Form noch nicht vorhanden. Dementsprechend lagen die Natur und ihr Synonym, die Landschaft, nicht im Gesichtswinkel der bildenden Künstler. Erst mit einer gewandelten Weltansicht entstand das Landschaftsbild und zugleich ein Raumbewusstsein, das sich jedoch wesentlich unterschied vom europäischen, wie es sich nach dem Mittelalter herausgebildet hat, ein Raumbewusstsein, welches unsere Sichtweise noch heute bestimmt: das perspektivische.

Ebenso wie wir haben die Menschen auch damals selbstverständlich wahrgenommen, dass die Dinge mit zunehmender Entfernung kleiner erscheinen, und dass Wände und Gebäude sich nach hinten zu schrägen Linien verjüngen. Der Augenschein konnte die Maler jedoch nicht beirren, die reale Welt nach ihren Vorstellungen neu zu schöpfen. Hatten sie also Gebäude abzubilden, so stellten sie diese zwar schräg, ließen jedoch die Linien des Dachfirsts, der Traufen, des Fundaments usw. in gleichem Abstand verlaufen, ohne Fluchtlinien zu bilden.

Die Wandbilder von Holingol

In Holingol, Innere Mongolei, entdeckte man Wandmalereien der Han-Zeit, welche das bisher älteste Beispiel dieser Art zeigen. Dargestellt ist eine von Mauern umschlossene Militärgarnison oder Palastanlage mit ihren Höfen und langgestreckten Unterkünften, in welche man von oben hineinschaut, sodass man die Bediensteten bei ihren Tätigkeiten beobachten kann . Wachtruppen und Standartenträger sind aufgezogen, Pferde, Reiter und einzelne Passanten bewegen sich zwischen den Häusern: das gesamte Getriebe in den Quartieren liegt offen und überschaubar vor uns. Die oberen, also weiter entfernten Figuren, sind ebenso groß wie die unteren, dem Betrachter näheren, und die Architektur mit all ihren Einzelheiten, mit Säulen, Türen, Gitterfenstern, Ziegeldächern usw. ist in der oben geschilderten Weise dargestellt, zwar vereinfacht, aber klar und übersichtlich. Das Ganze ähnelt einem Lageplan, nicht zuletzt durch die Inschriften, welche die Funktion der einzelnen Gebäude angeben. Durch die Schrägstellung der Häuser jedoch wird erreicht, dass Giebelfronten und die Seitenansichten gleichzeitig voll im Blick sind, mit allem, was sich in den Häusern abspielt, eine Unmöglichkeit für die uns geläufige, optisch korrekte Zentralperspektive.

Mit einer solchen Darstellungsweise wird zwar keine Raumtiefe erzeugt, dafür aber eine überzeugende Mittellösung zwischen Grund- und Aufriss, in der alles darstellbar ist, was der Maler schildern will. Diese Methode, „raumlosen“ Raum darzustellen, sollte bis in die Neuzeit nie mehr gänzlich aus der chinesischen und ostasiatischen Kunst verschwinden: die Parallelperspektive.

Das Seelenbanner von Mawangdui

Das älteste und besterhaltene Exemplar han-zeitlicher Malerei auf Seide ist ein T-förmiges Tuch von über zwei Meter Länge, aus dem 2. Jh. v. Chr., das man zusammengefaltet auf dem Sarkophag der Markgräfin von Dai in Mawangdui bei Changsha (Provinz Hunan) gefunden hat .

Wie schon die Zhou benutzten auch die Han solche Banner bei den Bestattungsriten siehe auch. Diese Riten waren von äußerster Wichtigkeit, so, wie der gesamte Grabkult. Schon seit frühester Zeit - und bis in unsere Tage - war das Wohlergehen der Abgeschiedenen eine der vordringlichsten Sorgen der Hinterbliebenen. Denn die Ahnenseelen sind es, welche die Verbindung mit Geistern und Göttern herstellen, und sie sind es, von denen Wohl und Wehe der Lebenden abhängt. Mit Opfer und Gebet müssen stets Erinnerung und Wohlwollen des Ahnen wachgehalten werden, denn eine unversorgte Seele kann großes Unheil anrichten.

Die Seele, um welche sich die Angehörigen mit größter Sorgfalt in komplizierten Riten kümmern, um Schaden von ihr fernzuhalten, und damit auch von sich selbst, nennt man Po-Seele. Sie ist mit dem Leib verbunden und verweilt zunächst bei dem Leichnam. Wird sie vernachlässigt, das heißt werden die Zeremonien nicht oder fehlerhaft durchgeführt, beginnt sie, ziellos umherzuirren und wird zu einem Dämon. Dann fällt es schwer, sie zu bannen.

Jeder Mensch hat eine zweite Seele, die Hun-Seele, welche nicht beim Körper bleibt, sondern in den Äther aufsteigt, woher sie einst kam.

„Alle Menschen wissen“, so heißt es in einem alten Text (Bao Puzi, 4. Jhd. n. Chr.), „dass ihre Leiber Hun- und Po-Seelen enthalten. Wenn auch nur eine davon den Körper verlässt, wird er krank, verlassen ihn alle, stirbt er. Im ersten Fall besitzen die Magier Fähigkeiten, sie zurückzuhalten, im zweiten Fall führt man Zeremonien durch, um die Seele zurückzurufen …“.

Bei diesem Seelenrufen wurden ursprünglich Gewänder des oder der Toten hin- und hergeschwenkt, damit die Seele ihren Platz darin wieder erkenne und hineinschlüpfe. Anstelle von Kleidern benutzte man auch Tücher, eben die Seelenbanner, in Form von Gewändern: „Gewänder zum Fliegen (feiyi)“. Dabei rief man die Seele an, ermahnte sie zur Rückkehr in den Leib, bat, beschwor sie, ja, drohte sogar. Trat sie nicht wieder in den Körper ein, so musste sie in langwierigen Gebeten und Ritualen auf ihrem Weg ins Jenseits begleitet werden. Dieser Weg mit all seinen Gefährdungen ist auf dem Totenbanner der Fürstin von Dai dargestellt .

Die Reise führt zunächst durch die Unterwelt, die beherrscht wird von zwei Fischungeheuern, deren Leiber so ineinander verschlungen sind, dass sie wie ein Doppelwesen erscheinen.

Fuchsartige Tierdämonen mit hörnerbewehrten Köpfen stützen die Fischköpfe. Der Fuchs wurde als Unterweltswesen angesehen, weil er seinen Bau unter der Erde anlegt. Er galt als Reittier von Dämonen und vermittels seiner Zauberkräfte als sehr langlebig.

Auf dem Rücken des Doppelfisches hockt ein fettleibiger nackter Atlant, an dessen linkem Bein eine Schlange gebunden ist, die sich unter ihm hindurchwindet und die Schwänze zweier Drachen umschlingt. Mit Kopf und Händen stemmt er die Plattform der darüberliegenden Zone.

Hier opfern die Nachkommen der Fürstin unter einem riesigen Klangstein, einem altchinesischen Musikinstrument, das bei den Totenfeiern gebraucht wurde. Auf einem Altar stehen Schalen, Trink- und Speisegefäße, am Boden davor die großen Ritualbronzen. Zu beiden Seiten kriechen schlangenschwänzige Schildkröten nach oben, die Rauchwolken speien. Auch sie verkörpern langes Leben. Auf ihren Rücken sitzen Eulen. Sie sind verbunden mit Nacht und Unterwelt. Ihre großen starren Rundaugen weisen sie als Geistervögel aus, denn es sind die Augen von Dämonen.

Über der Opfer-Szene hängen, gleich einem Zeltdach-Baldachin, mit Ornamenten oder Zeichen geschmückte Bänder herab, auf denen zwei menschenköpfige Vögel sitzen. Sind es Seelenvögel, welche die Hun- und die Po-Seele verkörpern? Ihr Blick ist aufwärts gerichtet zu einem Ring, an welchem die flaggenartigen Bänder befestigt sind. Es ist vermutlich eine Darstellung der Bi-Scheibe, Symbol des kreisrunden Himmels. Denn sie befindet sich im Mittelpunkt des unteren Bannerteils, analog also zum Zentrum des Kosmos. Zwei geflügelte Drachenleiber winden sich kreuzweise durch ihre Öffnung, was darauf hindeuten könnte, dass die Himmelsdrachen gemeint sind. Sie umschlingen alle Daseinszonen von der Unterwelt bis hinauf zur Jenseitspforte, beherrschen also den gesamten unteren Teil des Banners. Da, wo sie sich überkreuzen, stehen zwei Leoparden auf ihnen, die Köpfe umgewendet und eine Pranke erhoben. Sie halten eine rechteckige Platte zwischen sich, die in 4 x 4 annähernd quadratische Felder eingeteilt ist wie ein Spielbrett, vielleicht das Diagramm der Erde, denn sie ist verbunden mit jener Ringscheibe, welche den Himmel symbolisiert.

Auf der darüberliegenden Plattform ist die Tote selbst dargestellt, vorgebeugt auf einen Stock gestützt und gefolgt von drei Hofdamen, während vor ihr zwei Bediente knien, welche ihr Speiseplatten darreichen. Von wolkenförmigen Voluten begleitet, begrenzen die hochgereckten Hälse und die züngelnden Köpfe der beiden Drachen die Szene. Darüber schwebt eine Eule, als Nachtvogel ein Todessymbol. Auf dem Baldachin über ihr sitzen zwei Pfauen, Sinnbilder von Schönheit und Würde. Zwischen ihnen bekrönt eine Art Blüte den Baldachin, vielleicht eine Lilie, deren dämonenabwehrende Kraft an dieser Stelle sinnvoll wäre.

Ihre Spitze ragt nämlich in eine Toröffnung, welche den diesseitig-irdischen mit dem jenseitig-himmlischen Bereich verbindet. Durch dieses Portal muss die Totenseele hindurch, will sie zu den Ahnen aufsteigen, die in dieser Sphäre wohnen. An diesem Tor hockt ein Wächterpaar mit den Kopfbedeckungen von Würdenträgern. Auf den beiden Portalpfeilern sitzen Leoparden und wenden fauchend die Köpfe. Ein gefährlicher Engpass auf dem Weg ins Paradies, denn gewiss muss die Seele den wachenden Torbeamten Rede und Antwort stehen.

Über der Pforte entfaltet sich die Himmelswelt zu traumartiger Verdichtung, wie sie der altchinesische Mythos beschreibt. Sie breitet sich über das querliegende Feld, welches das Oberteil des Seelenbanners bildet.

Oberhalb der Torhüter sprengen zwei katzenköpfige Reiter nach beiden Seiten steil in die Lüfte. Sie sitzen auf einer geweihlosen Hirschart, vielleicht Hindinnen, mit gesprenkeltem weißen Fell, aber roten Köpfen und Läufen. An Seilen ziehen die gespenstischen Reiter etwas wie eine Bronzeglocke hinter sich her, die an einem Perlstab hängt. Er ist bekrönt von einem trapezförmigen Gebilde, das eine Räucherschale abbilden könnte. Zwei Kraniche, Sinnbilder langen Lebens, stürzen sich von oben herab und scheinen den Opferrauch gierig mit ihren geöffneten Schnäbeln aufzunehmen.

Was immer diese Gegenstände im einzelnen darstellen mögen: die Szene zeigt sinnfällig den Empfang eines Opfers im Jenseits, sei es nun der Rauch von Speiseopfern oder der Klang einer Ritualglocke.

Zu beiden Seiten füllt das Geschlinge zweier gewaltiger Flügel-Drachen den Bildraum. Ihre Köpfe sind hochgereckt, ihre züngelnden Rachen weit aufgerissen.

Auf den Schwingen des Linken kauert eine Frauengestalt, den Kopf nach oben gewandt zur Mondsichel über ihr, nach welcher sie offenbar greift. Der Mythos berichtet von Heng o oder Chang o, die ihrem göttlichen Gemahl, dem himmlischen Bogenschützen Yi oder Shenyi, das Kraut der Unsterblichkeit stahl und vor seinem Zorn zum Mond floh. Dort wurde sie zur Mondgöttin, die seither im „Palast der großen Kälte“ lebt, während ihr Gatte, nachdem er sie vergeblich verfolgt hatte, seinen Wohnsitz im Palast der Sonne nahm. Das Paar verkörpert die Kräfte des Yin, des Negativen, Kalten, Weiblichen und des Yang, des Positiven, Warmen, Männlichen.

Nach einer anderen Version des Mythos verwandelte sich Chang o in die ewig lebende Mondkröte, nachdem sie das Elixier der Unsterblichkeit zur Gänze getrunken hatte. Zuvor nämlich war sie von ihrem Gatten daran gehindert worden. Es ist der Hase, der auf dem Mond lebt, und den man noch heute sehen kann, welcher ihr das Elixier zubereitete. Auf alten Darstellungen finden wir ihn, wie er mit einem phallusförmigen Stößel in einem Mörser die Unsterblichkeitsdroge stampft, ein deutlicher Hinweis auf seine Fruchtbarkeit, die ihm den Ruf langen Lebens eintrug.

Kröte und Hase finden sich auch auf der Mondsichel, oberhalb der Chang o. Diese Verdoppelung des Ewigkeitssymbols wirkt auf dem Totenbanner wie eine Beschwörung. Die Mondkröte bläst volutenförmig Wölkchen aus, während sie nach dem Mondhasen greift.

Der Drache auf der rechten Seite stellt den Bezug her zum Sonnenmythos. Er windet sich durch eine Art Schlingpflanze, zwischen welcher, orangeroten Früchten gleich, acht runde Scheiben schweben. Es sind die acht Sonnenscheiben, nach anderen Versionen sind es neun, die auf den hohlen Maulbeerbaum geklettert sind, der am Rande der Welt steht, während die neunte (oder zehnte) zum Wipfel hinaufgestiegen ist, um von dort ihre Reise über das Firmament anzutreten. Als Pendant zur Mondsichel krönt ihre große rote Scheibe rechts oben den Sonnenbaum, beherrscht von einem schwarzen Raben, den Sonnenraben. Als einst beim Thronwechsel zweier mythischer Kaiser alle Sonnen zugleich am Himmel erschienen, schoss der Gemahl der Mondgöttin, der himmlische Bogenschütze Yi, Shen Yi oder Hou Yi alle Sonnen mit einem magischen Bogen vom Himmel, bis auf eine, eben unsere Sonne. Denn alle zusammen drohten sie, die Erde zu verbrennen. So wurde Shen Yi zum Retter der Menschheit.

Zwischen den Elementarsymbolen von Wasser und Feuer, Mond und Sonne, schwebt eine Frauengestalt, die offenkundig als die zentrale Gottheit der jenseitigen Welt angesehen wurde. Sie dominiert die Symmetrie-Achse des Totenbanners. Unmittelbar unter ihr sind die beiden herabstoßenden Kraniche dargestellt, während fünf weitere sie mit erhobenen Köpfen flankieren, die Schnäbel zum Gesang geöffnet. Aus dem Gewand der Frau wächst unten ein roter geschuppter und geflügelter Drachenleib, der sie mehrfach umschlingt und gleichsam einen magischen Kreis um sie bildet. Ist es die drachenschwänzige Nu Kua, die Schöpfergöttin, die Erfinderin der Ehe, welche die Menschheit erschuf und die Weltordnung wieder herstellte, als sie einst aus den Fugen geriet? Oder ist es die vergöttlichte Tote selbst als Herrscherin des Jenseits?

Rätselhaft wie diese Gestalt bleiben zahlreiche Einzelheiten des Totenbanners. Trotz seiner geradezu rokokohaft bewegten Formensprache, die wir gewöhnlich mit Empfindungen von lichter, leichter Beschwingtheit verbinden, geht von dem Werk eine beklemmende Stimmung aus. Seine düstere Phantastik wird verstärkt durch die dichte Symbolsprache, deren letzte Bedeutung vielleicht für immer im Dunkel bleiben wird.