Frühstufen der Landschaftsmalerei

Zhan Ziqian

Der Name des Malers Zhan Ziqian (ca. 580-620), der noch unter der Sui-Dynastie tätig war, wird in Verbindung gebracht mit dem angeblich frühesten reinen Landschaftsbild der chinesischen Malerei. Wie so viele, stammt auch diese Zuschreibung von dem Song Kaiser Huizong (Reg. 1101-1126), in dessen Sammlung es sich befand.

Ausflug im Frühling

Der „Ausflug im Frühling“, im Palastmuseum von Peking, zeigt eine Landschaft, in welcher die Einzelheiten in altertümlicher Weise gemalt sind . So erinnern die verschiedenartig dargestellten Bäumchen von fern an Gu Kaizhi, ebenso wie die auf Hügel und Berggipfel getupften Büsche. In gleicher Weise altertümlich wirkt das Spiralmuster in den festumrissenen weißen Wolken, die in der späteren Landschaftskunst als malerische Dunstschleier dargestellt wurden, sowie die genau gezeichneten Wellenornamente der Wasserfläche später mehr und mehr verschwanden. Auch stehen Bäume und Berge, Häuser und Menschen in keinem rechten Größenverhältnis zueinander.

Sämtliche Konturlinien sind mit einer leichten, eine gewisse Plastizität andeutenden Modellierung versehen, besonders deutlich an den wellig-weichen Bodenformationen und den Berggipfeln. Seltsamerweise sind die dunkelsten Stellen an den äußeren Rand des Formverlaufs gelegt, während in den Vertiefungen die helleren Zonen liegen, dort also, wo man Schatten erwarten müsste. Das gibt der Landschaft eine unwirklich-schwebende Atmosphäre. Die Modellierung ist in zartem Malachitgrün und Blau vorgenommen. Von daher stammt die Bezeichnung „Blau-Grün-Stil“, dessen Erfindung auf Zhan Ziqian zurückgehen soll.

Trotz all dieser archaisierenden Elemente, die für sich genommen sehr wohl der frühen Tang-Zeit zugeordnet werden könnten, liegt hier eine bildnerische Konzeption vor, die erst Jahrhunderte später greifbar wird.

In diese Richtung weist auch ein kleines Detail: einige der ins Bild gesetzten Gebäude tragen die konkav gebogenen Dachformen, welche sich erst in der Song-Zeit voll entfaltet haben. Die Landschaft erscheint hier nicht mehr als Hintergrundszenerie einer Erzählung, worin die Menschendarstellung Hauptsache ist, sondern umgekehrt sind hier die Menschen zu winzigen Wesen geschrumpft, nicht wichtiger als Felsen, Bäume, Häuser - ein Ding unter vielen im Zusammenhang mit der großen Natur.

Die Komposition entwirft ein später übliches Schema, das Weite suggeriert: links unten eine hügelige, baumbestandene Landzunge, rechts entwickelt sich bis zum oberen Bildrand vom Ufer über kleinere Hügel ansteigend ein Gebirgsstock, der von einem einzelnen Bergkegel überragt wird, welcher den Blick in die Ferne versperrt. Hierdurch entstehen zwei verschieden starke Schwerpunkte: ein kleinerer in der linken unteren Bildecke, ein beherrschender rechts oben. Eine breite Wasserfläche erstreckt sich zwischen den beiden Landzonen und bildet eine Diagonale, die den Blick des Betrachters in eine endlose Weite zieht. Wo sich zwischen Bäumen und Hügeln Raumzellen bilden, gehen sie bruchlos ineinander über. Das Bild repräsentiert eine solch einheitliche Raumauffassung, wie sie in der bisher bekannten Landschaftskunst der Tang-Zeit nicht belegt ist, auch nicht als Kulisse oder Hintergrundmalerei.

Li Sixun

In den Listen der Tang-Maler werden eine Reihe Namen als Landschaftsmaler aufgeführt. Zu den prominentesten gehören Li Sixun (651-716) und sein Sohn Li Zhaodao (670-730). Beiden wurden als Mitglieder des Kaiserhauses unter Ming Huang hohe Positionen in der Militärhierarchie verliehen. daher sind sie in der Kunstgeschichte auch als „General Li“ beziehungsweise „der kleine General“ bekannt.

Auch von ihnen ist kein Original überliefert. Nach den Beschreibungen verfolgten beide eine sorgfältige, detailgenaue Malweise, in welcher die Farben Blau und Grün vorherrschten, wobei von Sixun berichtet wird, dass er die Formen oft mit einer goldenen Tönung versehen habe. Die Tuschelinie trat offenbar hinter der Dominanz der Farbe zurück und zeigte wohl auch keine handschriftliche Bewegung. Demnach erscheint dieser Malstil archaisch, besonders wenn man ihn der überlieferten Bravour eines Wu Daozi gegenüberstellt siehe auch.

Die Erfindung dieses „Blau-Grün-Stils“ wird zwar Zhan Ziqian zugeschrieben, obwohl sich auch diese Malweise erst allmählich entwickelt haben dürfte aus Anfängen, wie sie aus Dunhuang bekannt sind, wenn auch in primitiven Ansätzen siehe auch. Die Beobachtung, dass Berge mit zunehmender Entfernung von Braun oder Grün in eine Blautönung übergehen, liegt ohne Zweifel den frühesten Versuchen zugrunde, dieses Phänomen in eine flächenhafte Malerei umzusetzen. Der „Blau-Grün-Stil“ erreichte während der Tang-Zeit seinen Höhepunkt und fand auch später dort eine Fortsetzung, wo eine archaisierende und dekorative Wirkung angestrebt wurde, wie bei Zhao Boju (12. Jh.) siehe auch und Qiu Ying (16. Jh.) siehe auch.

Boote auf dem Fluss

Eine Querrolle im Palastmuseum, Taipei, „Boote auf dem Fluss“, gilt als Kopie nach Li Sixun . Die äußerst minutiöse Durcharbeitung selbst kleinster Details entspricht den Schilderungen seines Stils. Bäume sind sorgfältig differenziert, jedes Blatt ist deutlich gezeichnet. Das gleiche gilt für die Architektur, wo Ziegel und Balken genau wiedergegeben sind. Die Gewänder der kleinen Menschenfiguren, welche die Landschaft beleben, sind mit jeder Falte erfasst. Dennoch vermitteln die Überschneidungen von Felsen, Bäumen und Gebäuden, die organischen Übergänge vom Vorder- zum Mittelgrund, der räumlich überzeugende Verlauf der Uferzone den Eindruck einer reifen Song-Arbeit. Auch ist die Konturlinie nicht von gleichbleibender Schärfe, sondern geschmeidig von wechselnder Stärke. Besonders in den Felsen verbreiten sich die Tuschelinien und modellieren das Gestein durch tiefdunkle Akzente. Und nicht zuletzt die konkav geschwungenen Dächer der Song-Architektur verraten, dass es sich hier allenfalls um eine freie Interpretation nach Li Sixun handeln kann.

In einer Hinsicht scheint sie jedoch der Tang-Auffassung nahe zu kommen: in der Rolle des Menschen in der Landschaft. Während in der monumentalen Landschaftsmalerei, wie sie seit dem 10. Jh. fassbar ist, der Mensch zu ameisenhafter Winzigkeit schmolz angesichts der überwältigenden Natur, ist er hier noch als Handelnder dargestellt, der noch nicht der Landschaft einverleibt ist. Im Einklang mit der Natur, ohne sie zu beherrschen, noch von ihr beherrscht zu werden, geht er seinen Geschäften nach.

Es scheint, als werde hier noch eine Geschichte von Menschen erzählt oder ihre Lebensweise geschildert wie im Genre-Bild.

Li Zhaodao

Die Reise des Kaisers Ming Huang nach Shu

Die gleiche Beziehung von Mensch und Natur spricht sich in einem Schlüsselwerk der Tang-Landschaftskunst aus, das wir von einer Kopie des 10. oder 11. Jahrhunderts kennen: „Die Reise des Kaisers Ming Huang nach Shu“, im Palastmuseum von Taipei .

Es handelt sich um ein echtes Historienbild, denn es erzählt ein historisches Ereignis, nämlich die Flucht des Tang-Kaisers Xuanzong nach Sichuan im Jahre 756 siehe auch. Erstaunlicherweise wurde das Original Li Zhaodao zugeschrieben, vermutlich weil es ein Musterbeispiel des „Blau-Grün-Stils“ darstellt. Der jüngere Li starb jedoch schon um das Jahr 730. Die alte schematisierende Szenentrennung mit Hilfe landschaftlicher Versatzstücke, die in der Art von Bühnenkulissen eingesetzt waren, ist nun in einer weit organischeren Weise gelöst. Die hier gebildeten Raumnischen ergeben sich wie natürlich aus der Landschaftsstruktur. Die sich darin abspielenden Szenen wirken nicht mehr beziehungslos herausgelöst aus ihrer Umgebung, sondern sie sind darin eingebettet.

Rechts tritt das kaiserliche Gefolge aus den Felsen hervor. Die Reitergruppe, welche auch Lastkamele mit sich führt, schlängelt sich nach vorne, also zum unteren Bildrand, wo sie sich nach links wendet. In dem rot gekleideten Reiter vor der Brücke vermutet man den Kaiser. Die Brücke verbindet diese Szene mit der folgenden, welche sich hinter einem Felsvorsprung abspielt. Sie zeigt das Absatteln mit einem genau beobachteten köstlichen Detail: ein von seiner Last befreites Maultier wälzt sich genüsslich, während daneben der Diener und die anderen Tiere ruhen. Solche anekdotischen Einzelheiten durchziehen das ganze Bild. Eine weitere Brücke links stellt die Verbindung zur nächsten Szene her, welche durch eine Baumgruppe abgetrennt ist. Am linken Ende der Rolle bewegt sich der Zug wieder in die Bildtiefe hinein und verschwindet um eine Felsecke in schwindelnder Höhe über dem Wasser. Hoch getürmte, spitzige Felsennadeln trennen die Szenenfolgen von fernen, wolkenumflossenen Bergen, die aus einem weiten Gewässer ragen. Auf diese Weise wird eine deutlich abgegrenzte Raumzone im Hintergrund gebildet, ohne einen zusammenhängenden Bildraum zu schaffen.

Die Blau-Grün-Palette ist hier höchst differenziert eingesetzt im Wechsel mit bräunlichen und Ockertönen, zugleich aber vollkommen unrealistisch. Nicht allein die fernen Berge und Küsten, sondern besonders auch die alles beherrschenden Felszinnen des Mittelgrundes sind trotz ihrer Nähe vorwiegend blau-grün getönt. Die Farbe modelliert nicht, sondern erzeugt durch ihre freie, rhythmische Anwendung, durch ihre zarten, fließenden Übergänge ein dekoratives Spiel, das dem Gestein jede Schwere nimmt. Allein die scharfe, bestimmte Tuschelinie markiert die Felsstrukturen. Aber auch sie bildet ein dekoratives Liniennetz ohne erkennbare realistische Funktion. Manche Übergänge und überhängende Felsformationen sind im räumlichen und physikalischen Sinne eine Unmöglichkeit, wohl aber sinnvoll als bildnerische Struktur. In gleicher Weise dekorativ verbinden sich Linien- und Farbenspiel in Wolken und Bodenwellen, in Bäumen und Pflanzen.

Sorgfältig ist die Platzierung von Tieren und Menschen gewählt. Die Farbtupfen der Gewänder bilden lebhafte Akzente von Weiß, Blau und Rot im Grün der landschaftlichen Umgebung. Das Ganze macht den Eindruck einer märchenhaften Welt. So imposant die Bergkulisse gegeben ist, so großartig sich Fernblicke öffnen, noch immer zieht der handelnde Mensch die Aufmerksamkeit auf sich, so klein er auch dargestellt wird. Es ist hier noch immer die erzählte Geschichte, welche das Hauptthema bildet.

Es ist nicht auszuschließen, dass bereits in der Tang-Zeit vereinzelt reine Landschaftsbilder geschaffen wurden, das geschilderte Werk dürfte jedoch exemplarisch sein für die Landschaftsauffassung der Tang-Zeit. Es scheint, als verstand man unter einem Landschaftsbild im allgemeinen ein erzählendes Figurenbild, dessen Geschehnisse sich in einer Landschaft abspielen, wie wir es auch aus Dunhuang kennen. Dies würde auch die Erwähnung zahlreicher Landschaftsmaler erklären, die wohl zum großen Teil als Spezialisten für landschaftliche Hintergründe wirkten, wie es ja sogar von dem großen Wu Daozi berichtet wird siehe auch.

Anonym

Eine Lautenhülle des Shoso-in

Im Shoso-in, dem Schatzhaus des Todaiji-Tempels von Nara, Japan, sind eine Reihe Kunstgegenstände der Tang-Zeit aufbewahrt. Darunter befindet sich eine Laute, deren lederner Plektronschutz mit einem Bild geschmückt ist, bei dem es sich um eine originale Tang-Malerei handelt . Dargestellt ist eine Landschaft im schmalen Hochformat einer Hängerolle. Den Vordergrund nimmt eine Musikantengruppe auf einem Elefanten ein. Ähnlich wie in der „Reise des Kaisers Ming Huang“ öffnet sich die steile Bergkulisse zu einem Blick ins Weite, wo wellenartige Bergkämme aus dem Meer auftauchen, wie wir sie aus der Sechs-Dynastien-Zeit von Dunhuang kennen siehe auch. Und ebenso phantastisch und mit unmöglichen Überhängen wie in der „Reise“ sind die Felsstrukturen angelegt, hier fließend und mit Andeutung modellierender Schatten. Deutlich ist das Bestreben, den Blick in die Ferne zu führen mit dem Fluss, der sich breit durch ein Tal windet. Der Horizont liegt fast am oberen Bildrand, wodurch eine gewaltige Höhe des Standortes suggeriert wird. Die Strahlen der auf- oder untergehenden Sonne steigen aus dem Meer auf in einer schier unerreichbaren Ferne, ein wohl einmaliges Motiv in der chinesischen Malerei. Aus der Tiefe des Raums zieht eine Kette von Wildenten tief unter dem Betrachter ins Tal hinein und lässt sich auf einer Sandbank nieder. Hierdurch entsteht eine Bewegung aus der Raumtiefe heraus und rückt diese gleichsam wieder näher. Zugleich werden Luftraum und Atmosphäre evoziert, ein Thema, was spätere Landschaftsmaler noch intensiv beschäftigen sollte.

Die Landschaft ist jedoch noch deutlich in die archaischen Raumkompartimente unterteilt. Während ein steiler Felssturz mit einem Wasserfall links das Bild in seiner gesamten Höhe abschließt, stoßen von rechts Barrieren in den Bildablauf hinein: ein von einem Felsblock weit überhängender Baum trennt optisch den Vordergrund vom Flusstal, während die Ausläufer eines Gebirgsstocks das Flusstal vom Meer abgrenzen.

Und dennoch ist auch dies kein reines Landschaftsbild: mehr als ein Drittel des Bildes ist von einem Elefanten im Vordergrund besetzt, der eine Musikkapelle trägt mit einem Tänzer in der Mitte, welcher gerade einen Tanz aufführt. Es sind Zentralasiaten, wie sie auch von den Grabkeramiken her bekannt sind, wo sie oft auch auf Kamelen musizierend dargestellt sind.

Bedingt durch den Mangel an authentischem Material, zeigt dieses unscheinbare Werk eine wichtige Zwischenstufe in der Entwicklung der Landschaftsmalerei.

Erst allmählich emanzipierte sich offenbar die reine Landschaftsdarstellung vom Historienbild in landschaftlicher Umgebung, indem die Landschaft Schritt für Schritt das Übergewicht über die Figuren gewann, gewiss verursacht von einer allmählich sich ändernden Auffassung der Beziehung des Menschen zur Natur. Nur so erscheint es verständlich, dass der Mensch aus dem voll entwickelten, autonomen Landschaftsbild der Song-Zeit noch immer nicht verschwunden ist. Kaum wahrnehmbar und vereinzelt tritt er dort noch auf, sozusagen als Überbleibsel einer zusammenhängenden Erzählung, bis ihn dann einige Meister der Yuan-Zeit vollends aus der Landschaft verbannten.

Wang Wei

Wang Wei (699-759), Maler und Dichter am Kaiserhof von Changan, wird die Erfindung einer neuartigen Malerei zugeschrieben, die ganz im Gegensatz stand zum traditionellen Stil dekorativer Farbigkeit und dünner Umrisslinie. Seine Zeitgenossen und nachkommende Generationen schätzten ihn hoch als den größten Dichter der klassischen Form und als den bedeutendsten neben dem zur gleichen Zeit wirkenden Li Taibo (701-762). Vermutlich deshalb traute man ihm die Genialität einer solchen Erfindung zu, ja eigentlich zweier Erfindungen.

Einmal die Technik der „gebrochenen Tusche“ (pò mo). Man verstand darunter vermutlich die Strukturierung bereits lavierter Binnenzonen innerhalb der Konturlinien etwa eines Felsens mit Hilfe von kürzeren oder längeren, breiten oder schmalen Pinselhieben (cun), welche Spalten, Klüfte, Vorsprünge etc. modellierten, wodurch ein lebendiger Oberflächencharakter entstand aus verschiedenen Strichlagen. Daneben wird in den Schriften der Begriff „dünnflüssige Tusche“ (pò mo) erwähnt. Damit ist die lavierte Tuschmalerei angesprochen, in der Wang Wei gearbeitet haben soll. Mit Hilfe von wasserverdünnter Tusche werden unterschiedliche Tonwerte vom zartesten Grau bis zum tiefsten Schwarz der unverdünnten Tusche erreicht, eine Technik, die allerdings erst im 10. Jahrhundert auftaucht und von manchen Autoren dem großen Landschaftsmaler Li Cheng (919-967) zugeschrieben wird. Möglicherweise bestand die Technik der „gebrochenen Tusche“ aus einer Mischung beider Verfahren. Es gibt kein Beispiel dafür aus dem 8. Jahrhundert.

Die andere Erfindung des Wang Wei soll die monochrome Landschaftsmalerei in eben dieser Technik gewesen sein. In poetischer Weise wird seine Landschaftskunst beschrieben, ohne dass wir uns davon eine wirkliche Vorstellung machen können: „Seine Berge und Täler drängen sich dicht in der Runde, während Wolken und Wasser dahintreiben.“

Es wäre in der Tat ein revolutionierender Schritt gewesen, denn nicht nur die Tuschezeichnung, die ihren Ausdruck ganz ohne Farbe erreichte, war bis zur Tang-Zeit unbekannt, sondern auch das reine Landschaftsbild als selbständiges Motiv war zu jener Zeit gewiss noch die Ausnahme, wenn es überhaupt schon auftrat. Denn die wenigen Beispiele autonomer Landschaften sind Kopien oder Zuschreibungen aus späteren Epochen. Und wie das Landschaftsbild Vorstufen hatte, so gewiss auch die monochrome Tuschmalerei, vermutlich mit figürlichen Motiven, wie ein auf Hanftuch gemalter Bodhisattva im Shoso-in siehe auch. Beide traten nicht plötzlich als „Erfindung“ auf. Wohl aber dürften sie sich zur Tang-Zeit entwickelt haben und könnten im 8. Jahrhundert zusammengeflossen sein.

Der Landsitz Wangquan

Eine Querrolle der Ming-Periode, aus dem 15. oder 16. Jahrhundert im Seattle Art-Museum, die in Verbindung mit Wang Wei gebracht wird, könnte ihrer Konzeption nach sehr wohl auf eine Arbeit des 7. oder 8. Jahrhunderts zurückgehen . Die Komposition ist auch in Steingravierungen der Ming- und Qing-Dynastien erhalten. Die Handrolle stellt den Landsitz Wangquan bei Changan dar, den Lieblingsaufenthalt des Malers. Sie ist nicht in monochromer Tuschetechnik ausgeführt, sondern in Tusche und Farbe auf Seide.

Es handelt sich um ein echtes Landschaftsbild: weder ist eine Geschichte darin eingebettet, wie bei der „Reise des Kaisers Ming Huang“, noch dient die Landschaft als Kulisse einer Erzählung, in welcher Figuren die Hauptrolle spielen. Die Menschen sind nun winzige Geschöpfe, die kaum wahrnehmbar ihren Beschäftigungen nachgehen: Reisende oder Fischer in ihren Booten, Wanderer, vornehme Herrn mit ihren Dienern in Pavillons. Wie Tiere und Pflanzen sind sie Teile der Landschaft geworden. Als seien sie von einem hohen Berg aus gesehen, liegen die einzelnen Gemarkungen des Landgutes ausgebreitet und von Schriftzeichen gekennzeichnet. Der Blick führt jedoch nicht ins Weite, sondern wird von einer durchlaufenden Bergkette begrenzt, über die er in Wirklichkeit hinausreichen würde. Der vor den Bergen liegende Bereich ist sozusagen nach vorne geklappt, etwa wie das Blatt eines Wandkalenders. Entlang einem Fluss, der sich am unteren Bildrand schlängelt, entwickeln sich die einzelnen Parzellen nebeneinander. Umfriedungen und Gebäude sind in jener Parallelperspektive mit Einblick von oben dargestellt, wie sie schon die Han kannten siehe auch. Die parallelen Fluchtlinien der verschiedenen Gehöfte sind abwechselnd schräg nach links oder nach rechts ansteigend festgehalten. Man fühlt sich erinnert an die perspektivischen Übersichtspläne europäischer Stadtansichten des 16. oder 17. Jhds.

Jeder Bezirk ist von Bäumen, Hügeln oder Bergen umschlossen. Die aufgetürmten Felsen des Hintergrundes nehmen nach vorne so sehr an Größe ab, dass sie zu kleinen Steinen werden, die das Flussufer säumen. Auf diese Weise entstehen jene Raumzellen, die sich bühnenartig nach dem Betrachter hin öffnen und die wir an dem Sarkophag der Sechs-Dynastien-Zeit in Kansas-City kennengelernt haben siehe auch. Der Landschaftsraum wird nur in Abschnitten erfasst und nicht als Ganzheit, sodass man ihn wie bei der Handrolle üblich, in einzelnen Sequenzen betrachtet. Weder zur Tiefe hin noch in der horizontalen Abwicklung gehen die Räume organisch ineinander über. Daher rührt die altertümliche Wirkung dieser Komposition. Ihre Raumkonzeption liegt entwicklungsgeschichtlich vor dem angeblich frühsten Landschaftsbild des Zhan Ziqian siehe auch, das von Kaiser Huizong ja schon ins späte 6. Jahrhundert verlegt worden ist.

Gerade aber die geschilderte Landschaftsauffassung rückt den „Landsitz Wangquan“ näher an die Landschaftskulissen auf Darstellungen der Sechs-Dynastien-Zeit. Dies spricht für das Alter der Vorlage. Sie stellt eine der frühsten Stufen der reinen Landschaftsmalerei dar.