Tier- und Pflanzenmalerei der Süd-Song
Die Eroberung von Kaifeng, 1126, durch die Jin und das bittere Ende des hochkultivierten Huizong nach fast zehnjähriger Gefangenschaft bei den Tataren der Mandschurei, unterbrach zunächst die Aktivitäten der Akademie. Kaiser Gaozong rief sie 1138 in der neuen Hauptstadt Hangzhou wieder ins Leben. Hier versammelte er alle namhaften Künstler, die aus dem Norden geflohen waren.
In den folgenden fast eineinhalb Jahrhunderten konnte sich die Malerei unter den Süd-Song neu entfalten. Sie brachte Werke hervor, die ihr bis heute Weltgeltung verschafften. Es war dies eine Malerei, die sich immer mehr von der Wirklichkeit entfernte. Die ständige Bedrohung durch die nördlichen Barbaren, der Verlust des halben Reiches, Natur-Katastrophen, Hungersnöte, soziale Konflikte, sowie die politischen Kämpfe der Hofparteien untereinander spiegeln sich allenfalls indirekt in der Malerei der Zeit. Insofern nämlich, als die allgemeine Unsicherheit in einem andauernden prekären Zustand zwischen Krieg und Frieden kompensiert wird mit einer Art geistiger Emigration in eine Welt der Harmonie und des Einklanges mit der Natur. Es ist die Sehnsucht nach einem verlorenen Zustand, der freilich nie Wirklichkeit gewesen war. Oft wurde vermutet, die liebliche Landschaft des Südens habe diese weltflüchtige, lyrisch-stimmungsvolle Kunst angeregt oder gar hervorgebracht: die herrlichen Gärten Hangzhous, seine märchenhaften Tempel, Pavillons und Paläste, seine lieblichen Hügel im Morgennebel, seine Kanäle und Flüsse, der Westsee. Gewiss hat sich keiner der Maler, insbesondere der Landschaftsmaler, dem Zauber dieser Umgebung entziehen können. Jedoch die Welt ist wie sie ist. Allein die Sichtweise der Menschen ändert die Welt in ihren Augen und in ihrem Sinn, entsprechend der Stimmungslage ihrer Zeit.
Dieser Grundstimmung kam eine weltanschauliche Überzeugung entgegen, die tief im chinesischen Denken verwurzelt war. Nach konfuzianischer Auffassung hat Kunst moralisch zu wirken, bzw. sie soll erbauen. Es würde das Gesetz der Schicklichkeit (li) verletzen, setzten sich die Künstler mit Themen auseinander die das moralische Verhalten der Menschen negativ beeinflussen könnten. Hieraus erwächst das geflissentliche Übersehen und Nichtbeachten von Konfliktstoffen. Dies gilt zwar insbesondere für die Kunst der Süd-Song, aber auch in hohem Maße für die chinesische Kunst allgemein.
Die älteren Meister, die noch in der Akademie von Kaifeng tätig gewesen waren, bewahrten sich den genauen Blick auf das Naturvorbild und setzten zunächst den metikulösen Akademiestil fort.
Li Anzhong
Von diesen Malern stand Li Anzhong (tätig ca. 1110-1140) als Tiermaler dem Ideal Kaiser Huizongs am nächsten. Er wurde von Kaiser Gaozong als stellvertretender Direktor an die Akademie von Hangzhou berufen und erhielt die höchste Auszeichnung, den Goldenen Gürtel.
Li liebte die Darstellung von Wachteln und seltsamerweise von Ratten, von jagenden Tieren und ländlichen Szenen. Auch als Landschaftsmaler hatte er einen Ruf. Jedoch unterscheidet sich ein von ihm signiertes Landschaftsblatt aus dein Jahre 1117 im Cleveland-Museum in seiner melancholischen Herbststimmung völlig von der realitätsbezogen Sichtweise des alten Akademiestils.
Falke und Fasan
Dagegen ist das Albumblatt „Falke und Fasan“, im Seattle Art Museum, signiert und datiert 1129 gekennzeichnet durch scharfe Naturbeobachtung und minutiöse Detailtreue .
Mit einem Angstschrei, sichtbar gemacht durch den weit geöffneten Schnabel, flattert ein Fasan vom Boden auf, gerade noch rechtzeitig, um den Fängen eines Falken zu entgehen. Der Raubvogel hat seinen Sturz abgebremst und schwingt sich, nun schon tiefer als der Fasan, mitten im Flug in einer eleganten Kurve wieder aufwärts. Wir sehen seine Unterseite, die schon wieder geschlossenen Fänge an die Brust gezogen, während der Fasan in Rückenansicht gegeben ist, beide Vögel mit ausgebreiteten Flügeln. Auf diese Weise verdeutlicht der Künstler ihr typisches Flugbild. Die Silhouetten zeichnen sich klar gegen den leeren Bildgrund ab, wobei das sorgfältig gemalte Gefieder deutlich erkennbar bleibt. Zwei parallel laufende Bodenwellen im unteren Bilddrittel bezeichnen den Ort des Geschehens. Zwei zerklüftete Felsbrocken bilden den Vordergrund und reflektieren die Positionen der Vögel im Bildraum: der linke, höhere entspricht dem fliehenden Fasan, der rechte, geduckte der Flugbahn des Falken. Ebenso antwortet die obere Bodenerhebung dieser unsichtbaren Kurve, (die das Auge automatisch nachvollzieht), in einer sanften Wellenbewegung.
Das genau kalkulierte Balancespiel der Flächenverhältnisse, das so typisch ist für den Akademiestil, nimmt dem dramatischen Vorgang die ihm innewohnende Dynamik und führt zur Erstarrung. Die beiden Protagonisten sind so in das Bildgefüge eingebaut, dass sie sozusagen nie mehr entkommen können: der Eindruck einer weiterführenden Bewegung wird nicht vermittelt. Die gewohnte Nahstellung wird aufgegeben zugunsten eines erweiterten Weltausschnitts. Dadurch bleibt den Vögeln genügend Abstand von den Bildgrenzen, um ihren Bewegungsraum glaubhaft zu machen. Durch das Fernerrücken des Geschehens wird der Betrachter zugleich in die Lage des distanzierten Beobachters versetzt, gleich dem Jäger, der das Wild beschleicht.
Trotz der realistischen Details und der genauesten Naturbeobachtung, entsteht die Unwirklichkeit einer Bühnenszene, nicht zuletzt durch die kulissenhafte Staffelung der drei Bildebenen hintereinander. Die Welthaltigkeit eines Cui Bo siehe auch ist verlorengegangen.
Li Di
Der andere bedeutende Tiermaler neben Li Anzhong in der unmittelbaren künstlerischen Nachfolge Huizongs war Li Di.
Auch er hatte als Hofmaler an der Akademie von Kaifeng gedient und wurde später als Vizedirektor an die Akademie von Hangzhou berufen. Auch er war Träger des „Goldenen Gürtels“. Er diente unter drei Kaisern der Süd-Song. Wenn man sich auf die Datierung der ihm zugeschriebenen Arbeiten verlassen kann, erreichte er ein hohes Alter (ca. 1100-1197).
Bei einer derart langen Tätigkeit wäre es nicht verwunderlich, wenn er unterschiedliche Stilphasen durchlaufen hätte. Denn einige späte Blumen- und Vogelbilder, die seine Signatur tragen, unterscheiden sich stark von seinen sonstigen Tierbildern durch ihre konventionelle Malweise im Sinne eines Xu Xi siehe auch.
Solche Rückwendungen sind in der chinesischen Kunst nicht ungewöhnlich.
Alter Baum mit zwei Vögeln
Ein gänzlich anderer Li Di begegnet uns in einem signierten Albumblatt, in welchem das landschaftliche Element vorherrscht: „Alter Baum mit zwei Vögeln“ (C. C. Wang, The Bamboo Studio, New York) . Der diagonal ins Bildfeld hineinwachsende Baum mit seinem grotesk verzweigten Astwerk dominiert. Die Felsen, an welchen sich seine Wurzeln festkrallen, sind mit breiten, kalligraphischen Pinselstrichen umrissen und fast ohne Binnenstruktur.
Dadurch wirken sie flach wie Versatzstücke und korrespondieren mit dem flächigen Bildgrund. Hierdurch wird die kräftige Ausarbeitung des Baumes und einiger Bambuspflanzen deutlich herausgehoben. In einer zweiten Ebene stürzt ein Wasserfall hinter den Felsen hervor. Seine Gischt ist zart laviert und zeigt Wellen und Spritzer in allen Einzelheiten. Das dahinter etwas dunkler anlavierte Felsufer ergibt keinen Raumeindruck, sondern dient lediglich dazu, das schäumende Wasser hervorzuheben. Zwei exotische Vögel mit langen prächtigen Schwanzfedern, die senkrecht herabhängen, sitzen dicht aneinandergedrängt auf einem dürren Ast rechts oben, weit außerhalb des Bildzentrums. Sie bilden durch die unbewegliche Schlafhaltung - einer hat den Kopf ganz ins Gefieder gesteckt - den Ruhepunkt des Bildes am Ende der Baumdiagonalen. Sie erzeugen dadurch eine Atmosphäre idyllischer Ruhe inmitten einer tosenden und bewegten Natur. Dieser Gegensatz gibt dem Bild etwas Unwirkliches. Denn für sich genommen, ergäben Baum und Wasserfall ein dramatisches Landschaftsbild.
Hirte und Büffel
Ein ebenso stark vom Atmosphärischen bestimmtes Bild stellt einen heimkehrenden Hirten dar, der auf einem Büffel durch eine winterliche Landschaft reitet. Zu dem Albumblatt gibt es ein Gegenstück, vielleicht eine spätere Hinzufügung, worauf ein Hirte vor seinem Büffel herläuft und einen erlegten Hasen an einer Stange über seiner Schulter trägt (beide Albumblätter im Yamato-Bunka-Museum, Osaka ).
Die Kompositionen verlaufen gegensinnig. Dort ist eine Baumgruppe links ins Bild gesetzt, während sich Hirte und Büffel nach rechts bewegen.
Hier in unserem Bild läuft die Bewegung umgekehrt. Eine diagonal nach links weisende Weide, die schräg aus einem Hang wächst, leitet die Bewegungstendenz ein. Ihr längster Ast reicht in weitem Bogen zum linken Bildrand, als wolle sie den Dahinziehenden kargen Schutz gewähren. Mit knappen Mitteln ist die Stimmung eines späten Nachmittags im Winter erreicht, trotz der vorherrschenden Brauntönung: eine dünne Tuschelavierung überzieht den Hintergrund und ergibt den verhangenen Winterhimmel. Die Wirkung des Schnees auf Baum, Gesträuch und Boden entsteht durch den unbehandelten Seidengrund. Eine gegen den Himmel abgesetzte Horizontallinie, mit einigen Grasbüscheln betupft und ein wenig Felsabbruch vorne in der rechten Bildecke genügen, um zu verdeutlichen, dass der Büffel über einen schmalen Bergrücken trottet. Die Beine angezogen, kauert der frierende Hirte auf dem Rücken des Tieres und hält einen Stecken vor sich, an dem ein erbeuteter Fasan baumelt. Der Wasserbüffel ist treffend und humorvoll charakterisiert in seiner schwerfälligen Gangart und seinem Ausdruck von gutmütiger Friedfertigkeit. Zwar ist das zottige Fell mit feinen Pinselstrichen festgehalten, jedoch ohne die vom Akademiestil her bekannte akribische Malweise.
Dieses liebenswürdige Stimmungsbild ist dem erzählenden Inhalt und der Darstellungsweise nach ein echtes Genrebild. Dennoch ist der Büffel hier die Hauptsache. Das kleine Werk reiht sich ein in eine ganze Serie von Büffeldarstellungen, welche in der Süd-Song-Zeit so beliebt wurden, dass man von einer eigenen Sparte der Büffelmalerei sprechen kann. Ihren Vorläufer hatte sie in dem Tang-Meister Dai Song, der im 8. Jahrhundert wirkte.
Von alters her das lebenswichtigste Haustier, verkörperte der Wasserbüffel den guten Geist des lebenspendenden Wassers und somit auch der Fruchtbarkeit. Der Daoismus sah in ihm daher das Sinnbild eines harmonischen, mit der Natur verbundenen Daseins. Im Chan-Buddhismus der Song-Zeit beschrieb die verbreitete Parabel von dem seinem Hirten entlaufenen und wiedergefundenen Rind die Stufen des Erleuchtungsweges. Solche und ähnliche Bedeutungen wohnen diesen Büffeldarstellungen inne und wurden von den Betrachtern auch so verstanden. Sie machen den eigentlichen weltabgewandten Sinngehalt unseres Bildes deutlich.
Mu Qi (Fa Chang)
Der Chan-Buddhismus blühte auch im Süden weiter. In der Umgebung Hangzhous entstanden zahlreiche Klöster. Abseits vom höfischen Kunstbetrieb und der Akademie pflegten die Mönche die Chan-Malerei, wie sie sich parallel zu den Bestrebungen der Literatenmaler entwickelt hatte siehe auch.
Der grundsätzliche Gegensatz zum Akademiestil bestand fort. Lediglich im lyrischen Stil der Landschaftskunst gab es Übereinstimmungen der Ausdrucksmittel. Der prinzipielle Vorbehalt der akademischen Richtung gegen diese mönchische Laienmalerei blieb. So sind Anmerkungen über die Malerei eines Chan-Priesters überliefert, die nicht allein standen: „Er drückte seine Ideen ganz simpel aus, ohne schmückende Ausarbeitung. Seine Malweise war roh und hässlich und nicht in Übereinstimmung mit den alten Regeln, noch (war sie geeignet) für verfeinerten Genuss“. Dieser Beurteilung folgten auch spätere chinesische Kritiker.
Der so Kritisierte gilt heute als einer der größten Chan-Maler: der Mönch Mu Qi. China besitzt von ihm nur eine einzige Handrolle mit Blumen und Vögeln in der Sammlung des Palastmuseums.
Fast alle seine Werke und die, welche ihm zugeschrieben werden, befinden sich in Japan, wo er schon zu seinen Lebzeiten hochgeschätzt wurde.
Mu Qis Lebensdaten sind ungewiss (ca. 1200-1270 oder -1290). Er stammte aus Sichuan und kam um die Mitte des 13. Jahrhunderts nach Hangzhou, wo er das verlassene Kloster Liutong si reaktivierte. Unter seinem Einfluss entstand hier eine Schule der Chan-Malerei, wo auch japanische Zen-Mönche den Stil Mu Qis studierten und eine Anzahl seiner Werke mit in ihre Heimat nahmen. Im 14. Jahrhundert wurde das Liutong si geradezu ein Wallfahrtsort japanischer Zen-Maler. Hierbei sollen Arbeiten in Mu Qis Malweise entstanden sein, die sich von den Originalen kaum unterscheiden ließen. Mu Qi liebte einfache Dinge und Wesen. Auch einige duftig gemalte Landschaftsbilder werden ihm zugeschrieben, worin die Dinge zum Teil nur noch schemenhaft aus Dunstschleiern aufsteigen. Mit unnachahmlicher Leichtigkeit sind seine Tiere und Früchte hingetupft, als habe sein Pinsel den Malgrund kaum berührt.
Affenmutter mit Jungem
Und dennoch evoziert die flüchtige Spur die lebensvolle Natur, etwa einer Äffin, die ihr Junges hält . Sie ist dargestellt auf dem rechten Seitenstück einer Rolle, welche Guan yin im weißen Gewande zeigt, eine seraphische Gestalt, in meditativer Versunkenheit sitzend, voll Wärme und innerem Adel, weit entfernt von der hoheitsvollen Distanz eines Tang-Kultbildes (Daitokuji, Kyoto). Die Gesichter der Tiere sind in karikierender Abkürzung gegeben wie eine Kinderzeichnung: Punkt, Punkt, Komma, Strich … Ihr flauschiges Fell ist offenbar mit einem struppigen, abgenutzten Pinsel gemalt. Die seltsam verdrehte Haltung der Affenmutter ist überaus treffend in jener lockeren Entspanntheit erfasst, die diesen Tieren eigen ist. Der diagonal ins Bild greifende alte Baumast, worauf die Äffin sitzt, ist mit wenigen prägnanten Pinselzügen festgehalten.
Das linke Gegenstück stellt einen Kranich mit leicht geöffnetem Schnabel dar, der augenscheinlich einen Schrei ausstößt, während er aus einem Bambusdickicht tritt. Die Mittel sind hier mit der gleichen Sparsamkeit und genauso treffsicher eingesetzt. Weite und Leere umgibt die Tiere, sodass die Bilder ein Gefühl von Einsamkeit hervorrufen, ganz in Übereinstimmung mit der einsamen Erlösergestalt Guan yins. In China waren jedoch solche Triptychen unbekannt, sodass die drei Hängerollen wohl erst in Japan zusammengestellt wurden. Dennoch waren diese Tierbilder sicherlich nicht als einfache Naturstudien gedacht, sondern auch für sich allein als Botschaften des chan-buddhistischen Seinsbegriffs. So galt der Affe zum Beispiel als Symbol des welt- und illusionsverhafteten Menschengeistes, der Kranich aber von Weisheit und langem Leben. Zweifellos bleiben diese Seitenstücke vielen Deutungen offen, und in dieser Absicht wurden sie gewiss auch zusammengestellt, ganz nach Art und Weise des Zen: es ist die Andeutung, welche den Geist in Bewegung setzen soll.
Päonien
Der gleiche, auf das Wesen der Dinge gerichtete Geist spricht aus Mu Qis Blumenbildern, wie die „Päonien“ im Daitokuji zeigen . Man könnte die Malweise geradezu als „impressionistisch“ bezeichnen, drückte dies nicht den Augenreiz der Oberfläche aus, also gerade das Gegenteil dessen, was erreicht wird. Die ungewöhnliche Freiheit, die scheinbare Flüchtigkeit des Vortrags trifft das nach allen Seiten strebende Wachstum genau.
Der Wechsel von lavierten Flächen ohne Umriss (Blüten und Blätter) und dunkel getuschten Linien (Stiele, Blattadern, Zweige), welche dem Ganzen ein lockeres Gerüst geben, ist voll von drängendem Leben. Die flüssige Tusche scheint schnell hingesetzt: nur der schnellgeführte Pinsel vermag der Eile des Gedankens zu folgen und - im rechten Moment - der blitzartigen Erleuchtung.
Sechs Persimonen
Ist ein solches „Stillleben“ für abendländische Sehgewohnheiten bewunderungswürdig, so sind die „Sechs Kaki-Früchte“ (Persimonen) (Daitoikuj-Tempel, Kyoto) in ihrer Unscheinbarkeit dem auf Abwechslung und Zerstreuung ausgerichteten Blick unzugänglich. Das kleine Bild mit den bescheidenen Maßen von 35,3 cm x 37,5 cm gilt jedoch als ein Meisterwerk der Chan-Malerei .
Es zeigt in einer Reihe fünf Früchte und darunter, vor einer Lücke, eine sechste. Ein paar Kringel, ein paar Tupfen und Striche, mit vollem Pinsel hingesetzt, das ist alles. Es genügt, die materielle Existenz der saftigen, vollreifen Früchte zu evozieren. Sie liegen etwa im unteren Drittel der Bildfläche und drücken dadurch ihr Eigengewicht aus. Sie liegen in der Tat, ja die dunkelsten zeigen durch ihre breite, annähernd rechteckige oder ovale Form die Schwere ihres überreifen Fruchtfleisches an. Aber worauf liegen sie? Nirgends sieht man auch nur eine Andeutung einer Tischfläche oder einer sonstigen Unterlage. Raum ist nicht vorhanden oder doch nur insofern, als die eine nach unten gerückte Kaki-Frucht den Eindruck erweckt, als liege sie „vor“ der Reihe. Ein gewisses Raumempfinden, allerdings nur in einem engsten Umkreis, entsteht auch durch die Plastizität der Früchte, die durch die Lavierung erreicht wird und durch die flache Aufsicht, in welcher Kelchblätter und Stiele angedeutet sind. Sie sind hingeschrieben wie Schriftzeichen und deuten wie kleine Kommas nach beiden Seiten, also wiederum parallel zur Bildfläche. Bemerken wir aber erst die Abwesenheit von Raum, so beginnen die Früchte scheinbar zu schweben: ihr Gewicht, ja ihre gesamten materiellen Eigenschaften werden zweifelhaft.
Das gleiche gilt auch für die Hell-Dunkel-Tönung: sie wird weder durch die Lokalfarbe bestimmt noch durch die Beleuchtung. Sie folgt einer Sehweise, die nicht mehr von materiellen Gegebenheiten abhängig ist. Dieses Wechselspiel vielfältigster Beziehungen von Tonwerten, Gewichten, Positionen, Fläche und Raum sind hier nur Mittel, die als Kristallisationspunkt geistiger Sammlung und Versenkung dienen, als Tor zum Eintritt in einen Bereich der mit keinem menschlichen Ausdrucksmittel mehr beschrieben werden kann, im besten Fall nur noch umschrieben. Die Reduktion des Dargestellten ist hier schon so weit getrieben, dass es zum Zeichen wird für ein Unsagbares: ein wahrhaftes Meditationsbild.
In den großen Themenkreisen von Figuren, Tieren und Pflanzen brachten die Künstler der Fünf Dynastien-Zeit und der Song-Epoche Wesen und Eigenart ihrer Weltsicht in Meisterwerken höchsten Ranges zum Ausdruck. Von gegensätzlichen Standpunkten aus wurden die Ausdrucksmöglichkeiten dieser Motive erforscht und ausgeschöpft. Nachfolgende Generationen lieferten die Variationen zu diesen Themen. Es war aber die Landschaftskunst, worin sich der chinesische Geist am umfassendsten aussprach und seinem innersten Wesen Gestalt gab.