Monumentalplastik des Südens

Großplastiken aus der Sechs-Dynastien-Zeit treten im Süden seltener auf. An einigen Grabwegen südlicher Dynastien sind noch große steinerne Schildkröten erhalten, Symbole der Unsterblichkeit, die Säulen oder Gedächtnisstelen auf dem Rücken tragen. Einige finden sich in der Gegend von Zhuyongxian, westlich von Nanking, einst eine Begräbnisstätte der Liang-Dynastie (502 - 557).

Von geradezu bestürzender Gewalt sind die monumentalen Ungeheuer, die heute dort auf freiem Feld stehen und ehemals die Grabeingänge flankierten. Es sind Nachfahren jener geflügelten Phantasiewesen, die schon zur Zeit der Streitenden Reiche die Grabanlagen bewachten siehe auch. Offenbar bestand eine ungebrochene Tradition in der Herstellung solcher Schutztiere, denn man fand kleine Jadefigürchen in Gräbern der Westlichen Han-Dynastie, die ihnen bis in die Einzelheiten gleichen. Als Großskulpturen treten sie etwa seit dem 3. Jh. in Erscheinung an Herrscher- und Adelsgräbern der Südlichen Dynastien.

Ein geflügeltes Mischwesen

Das gemeinhin als Chimäre bezeichnete dämonische Tier des Universitätsmuseums, Philadelphia, wahrscheinlich um 500 entstanden, hat den Kopf zurückgeworfen und das Maul drohend geöffnet . Der kurzschnauzige Felidenkopf mit dem abstehenden Backenbart lässt an einen Tiger denken. Doch der dünne, längliche Kinnbart, der über der gewölbten Brust liegt, das eingekerbte Horn, das sich über den Nacken legt, sowie ein Flügelpaar heben seine Erscheinung ins Phantastische. Die Beine sind teilweise abgebrochen, doch am weit nach hinten ausgestreckten rechten Schenkel der Hinterhand und dem vorderen Oberschenkel ist erkennbar, dass es im Passgang weit ausschritt wie die meisten seiner Art.

Manche dieser Tiere tragen auch zwei Hörner. Man hat sie deswegen mit dem Einhorn (qi lin) gleichgesetzt, das zuweilen auch mit zwei Hörnern dargestellt wird siehe auch. Es symbolisiert Tugend, Friedfertigkeit und Gerechtigkeit des Herrschers. Hier jedoch handelt es sich um Geschöpfe, deren Haltung nichts als Aggressivität ausdrückt: sie schreiten mit gewaltigen Schritten vorwärts, die Brust ist in einer prallen Rundung vorgewölbt, Hals und Kopf zurückgebogen wie zu einem plötzlichen Stoß bereit, gleich einer Kobra. Diese drohende Haltung ist allen diesen Tieren eigen. Sie ist Ausdruck ihrer Funktion, dämonische Kräfte abzuschrecken. Es sind „Übel abwehrende Wesen“ (bi xie) .

Die ungeheure Spannung, welche die gesamte Gestalt durchzieht, wird erreicht durch die Verteilung der Körpervolumen, wobei Brust, Hals und Kopf in eine Gegenbewegung zum Leib versetzt werden. Gewinnt die Gestalt allein schon durch diese Biegung an Dynamik, so wird ihre Expressivität noch gesteigert durch ein bewegtes Linienspiel, das die Körperformen überzieht. Vom Hals über die Brust ziehen mehrere parallele Rillen, die der Brustwölbung folgen und ihren Schwung emphatisch verstärken. Aus diesem halbkreisförmigen Wirbel wächst das gestreifte, aufwärts schwingende Flügelpaar über den vorderen Oberschenkeln. Am Bauch sind Rippenbögen eingekerbt, an den Schenkeln sind es Muster, die Muskulatur und Sehnen andeuten. Haarlocken sind in flachem, Wirbelsäule und Schwanzansatz in erhabenem Relief herausgearbeitet.

Wenn auch diese körpereigenen Einzelheiten als Ausgangspunkt für die Behandlung der Oberfläche dienten, so ist ihre Gestaltung doch weit entfernt von jedem Realismus. Hier entfaltet sich das Lineament in einem freien Rhythmus im Wechselspiel mit den plastischen Massen. Dies zeigt auch der Vergleich mit anderen „Chimären“ dieser Periode: sie sind einander ähnlich in Haltung und Gestalt. Jedoch gleicht keine ornamentale Erfindung der anderen.

Schutztiere der Liang-Gräber

Diese apotropäischen Tiere waren an den älteren Grabanlagen der Südlichen Song und der Südlichen Qi aufgestellt und auch noch am Grab des ersten Liang-Kaisers Wu di. Es bedurfte nur geringer Veränderungen, um diese „Chimären“ in „Löwen“ zu verwandeln: das Horn verschwand, aus dem Kinnbart wurde eine weit über die Brust hängende Zunge, aus dem abstehenden Backenbart eine breite, fächerförmige Mähne, welche die Kurve des Nackens wiederholt. Das Erscheinungsbild dieser löwenähnlichen Wesen war nicht weniger realitätsfern und schreckenerregend, als das ihrer Vorgänger. Sie hatten die gleiche Abwehrfunktion und wurden zweifellos ebenfalls als bi xie aufgefasst. Während der gesamten Liang-Zeit waren es nun also geflügelte Löwen, welche paarweise die Grabwege bewachten. Es müssen einst majestätische Anlagen gewesen sein. So stehen sich die Tiere am Grab des Xiao ji bei Zhuyongxian, Jiangsu, im Abstand von 20 Metern gegenüber. Dazwischen führte der Prozessionsweg hindurch.

Die Dimensionen dieser Grabwächter sind gewaltig. Die Köpfe ragen bis zu 3 Meter hoch. Ihre Körper bilden Volumen von monumentaler Wucht. Ging bei den Chimären die Hauptwirkung von der Seitenansicht aus, so tritt bei den Löwen die Frontalsicht hinzu, deren schwellende Plastizität den Eindruck überwältigender Kraft erweckt.

In den Grabbezirken der Liang wurden Säulen errichtet, von denen noch heute einige aufrecht stehen . Ihr sich nach oben verjüngender Schaft und dessen Kanneluren erinnern an indische bzw. graeco-buddhistische Säulen, ebenso wie das Lotoskapitell, auf dem sich ein Löwe erhebt, der den Wächterlöwen gleicht. Auch der altindische Herrscher Ashoka ließ im 3. Jh. vor Chr. Löwensäulen mit Lotoskapitellen errichten. Löwe und Lotos sind Zeichen des Buddhismus, dem auch die Liang anhingen. So musste ihnen der Löwe als Emblem und Beschützer des Glaubens besonders geeignet erscheinen, über ihre letzte Ruhestätte zu wachen.

Die chinesischen Bildhauer verliehen ihm jene Monumentalität, elementare Kraft und unwiderstehliche Gewalt, die abschrecken sollten: Rückverwandlung des buddhistischen Löwen in ein Wesen rein chinesische Phantastik.