Großplastik der Tang-Zeit

Hatte sich schon unter den Dynastien, die auf die Nördlichen Wei folgten, eine Tendenz zur Rundung der plastischen Form durchgesetzt, die vermutlich auf Impulse aus Indien zurückging, so wird der Einfluss der späten Gupta-Kunst mit dem Beginn der Tang-Zeit unübersehbar. Diese erneute Einwirkung indischen Formempfindens wird einerseits zurückgeführt auf Verbindungen mit Südostasien, wo die Gupta-Kunst ihre Spuren hinterlassen hatte, andererseits auf buddhistische Pilger, die Votivstatuen aus Indien mit sich führten. Der einflussreichste unter ihnen war der Mönch Xuan Zang siehe auch, der im Jahre 645 nach Changan zurückkehrte, im Gepäck eine Kopie der berühmten Udayana-Skulptur, die zu Lebzeiten des Buddha Shakyamuni angefertigt worden sein soll.

Die Grottenheiligtümer von Tianlongshan, Shanxi liegen unweit eines Pilgerweges, der einen der heiligen Berge Chinas, den Wutaishan, mit Indien verband. In den tangzeitlichen Skulpturen dieser Höhlengruppe wird der Gupta-Einfluss besonders anschaulich.

Torso eines Bodhisattvas aus Tianlongshan

Dem Torso des Museums Rietberg, Zürich, fehlen Kopf, Hände und Füße. Dennoch zeigt er all jene plastischen Qualitäten, wie sie sich im Laufe des 7. Jahrhunderts entwickelt haben. Obwohl im Grunde ein Hochrelief, da die Figur ursprünglich mit der Felswand verbunden war, wirkt sie aus der Frontalsicht und auch noch im Dreiviertelprofil wie eine vollplastische Statue .

Sie nimmt die klassische dreifach gebogene Haltung ein (tribhanga), welche die meisten indischen Götterbildnisse zeigen. Die Stellung ähnelt dem Kontrapost, der seit der Antike zum Repertoire der abendländischen Kunst gehört: das Körpergewicht ruht auf dem Standbein, das entlastete Spielbein ist etwas vorgerückt. Dadurch entsteht eine Drehung in den Hüften, der Oberkörper ist leicht zur Seite gebogen, während der Kopf wiederum in Gegenrichtung geneigt ist. Im europäischen Verständnis drückt diese Position Ruhe aus, statisches Verharren. In der indischen Kunst ist sie Ausdruck einer tänzerischen Bewegung, einstmals der Tanzkunst entnommen.

Diese tänzerische Beschwingtheit lebt fort in tangzeitlichen Skulpturen des 7. und 8. Jhds., vorwiegend in den Begleitfiguren Buddhas wie diesem Bodhisattva. Obwohl er die typische Kontrapost-Stellung einnimmt - das rechte Bein leicht vorgestellt - scheint der Bodhisattva nicht zu stehen, sondern eher zu schweben in einer aufwärts strebenden Kurve. Sie ist deutlich ablesbar an einer Mittellinie, die der linea alba antiker Skulpturen entspricht. Sie beginnt als Mulde zwischen den Beinen, setzt sich fort über einen schmalen Gewandwulst bis zum Bauch, von dort über den Nabel zu einer über die Brust herabhängenden Kette zum Hals. Die abschließende Gegenbewegung, die dritte Biegung, muss die Phantasie ergänzen.

Die gerundeten Arme, die vereinfachte Behandlung des Oberkörpers ohne Andeutung von Rippen und Muskulatur, die zart modellierten Rundungen von Brust und Bauch, diese schwellende, gleichsam atmende Körperlichkeit entspricht ganz dem indischen Ideal. Und obwohl der von den Hüften lang herabfallende Dhoti die Beine umschließt, treten sie vollplastisch hervor, ganz im Unterschied zu Gewandfiguren der Qi, Zhou oder der Sui. Auf diese Weise tritt die gesamte Gestalt plastisch und gleichsam unverhüllt in Erscheinung.

So sehr sich die chinesischen Bildhauer einem fremden Gestaltempfinden zeitweise annäherten, stets brachten sie auch die eigene Formensprache zur Geltung. Gewandfalten, Bänder und Schmuck boten Anlass zu einer ornamentalen Belebung der Oberfläche. Sie zeigt sich im Geschmeide des Bodhisattvas, hier sparsam aus Halskette und Armreifen bestehend, insbesondere aber im rhythmischen Schwung der Gewandfalten, die in großzügigen Kurvaturen die Körperformen überziehen und die anmutige Biegung der Gestalt von den Schultern bis zu den Knien in einem einzigen ovalen Schwung zusammenfassen. Diese Dynamik verstärkt die tänzerische Beschwingtheit der Figur und ihre scheinbar schwebende Leichtigkeit. Die Faltenstege sind teils vereinzelt, teils gebündelt in parallelen Bahnen, teils flach, teils in tiefen Einschnitten über und um die Figur gelegt, sodass ein spannungsvoll wechselndes Spiel zwischen plastischen Körperpartien und graphischen Abläufen entsteht. Das chinesische Formempfinden, das stets eine zeichnerisch lineare Strukturierung verlangt als Gerüst jedweder bildnerischen Gestaltung, ist hier zu einem selten erreichten Ausgleich gelangt mit einer gegensätzlichen Konzeption des Plastischen.

Die Monumentalskulpturen des Feng xian si von Longmen

In den meisten der großen Höhlenheiligtümer Chinas haben die Bildhauer der Tang-Zeit Werke hohen Ranges hinterlassen. Eine der Gipfelleistungen der chinesischen Bildhauerkunst und einer der großen Augenblicke der Weltkunst ist das Ensemble von Monumentalskulpturen im Feng xian si (oder Ju xian si) von Longmen, Henan. Ehemals von weitläufigen Tempelhallen überdacht, beherrschen sie heute weithin sichtbar das Tal des Yi-Flusses . Das Heiligtum geht auf eine Stiftung des Kaisers Gaozong und der Kaiserin Wu Hou siehe auch aus dem Jahre 672 zurück. Allein für die gewaltige Hauptfigur des über 15 Meter hohen Buddha Vairocana hat die Kaiserin laut Inschrift „20.000 Schnüre Münzen“ gestiftet. In drei Jahren war das Werk vollendet.

Auf jeder Seite schützen zwei Riesen den heiligen Bezirk, die zur Linken stark beschädigt, die beiden auf der rechten Seite noch fast vollkommen intakt . Der vordere, die Krone eines Wissenskönigs (vidya raja = ming wang) auf dem kahlen Schädel, ist ein Verteidiger des Glaubens, ein kraftvoller Krieger (li shi). Sein nackter Athletenleib ist nach indischer Art nur mit einem Lendentuch (dhoti) bekleidet. Der nach außen gerichtete Arm ist abwehrend erhoben, bereit zu einem Handkantenschlag. Die andere Hand liegt zur Faust geballt an der Hüfte. Den Oberkörper leicht nach hinten gebeugt, die Beine im Ausfallschritt, die Fußzehen eingezogen, scheint die Gestalt unter Anspannung aller Energien zu vibrieren. Jeder Muskel, jede Sehne, jede Ader tritt kraftschwellend hervor von der gewaltigen Halsmuskulatur bis zu den Schienbeinen: eine Dynamik von höchster Expressivität, die sich auch in den dünn über dem Körper liegenden, kurvig bewegten Faltenbahnen und dem offenbar schwingenden Kettenschmuck ausspricht. Wenn auch keine anatomisch korrekte Wiedergabe, so ist doch in dieser Gestalt eine überwältigende physische Präsenz erreicht, die ihrer Aufgabe der magisch wirksamen Abwehr unheilvoller Kräfte voll entspricht. Dies wird vor allem deutlich in dem zorngeschwollenen Gesicht. Mit drohend aufgerissenen Augen, wulstig zusammengezogener Stirn und geöffneten Mund ruft der Gigant die Bannsilbe „A“, während sein Gegenpart auf der anderen Seite einst mit geschlossenem Mund die heilige Silbe „Hum“ summte, beide gemeinsam das mystische „Om“ bildend. Damit spannte sich zwischen ihnen eine unsichtbare magische Schranke, unüberwindbar für alle Dämonen, welche die Kreise des Buddha zu stören drohten.

Die gleiche Tendenz zu schwellenden Körpervolumen zeigt der hinter der Ringergestalt stehende Himmelskönig des Nordens (Vaishravana = Do wen) . Auch er ist in einer Bewegung dargestellt: in einer etwas steifen Siegerpose hat er das rechte Bein angehoben und tritt auf den Kopf eines zwergenhaften Erddämons (yaksha). Die Linke auf die Hüfte gestützt hebt er mit der Rechten einen Stupa empor, Zeichen des Glaubens. Er blickt ernst, jedoch nicht drohend. Seine Haltung ist beherrschter, seiner ritterlichen Erscheinung entsprechend. Unter seiner prachtvollen, reich ornamentierten Rüstung und den dünnen Falten des Untergewandes zeichnet sich deutlich die kraftvolle Gestalt ab. Die gleichsam abstrakte Strenge der Sui-Plastiken ist einer Suche nach lebendiger Körperlichkeit gewichen, nach einer größeren Beschwingtheit des Faltenflusses und differenzierterem Ausdruck des menschlichen Gesichts.

Diese Neuorientierung nach indischen Vorbildern ist auch noch spürbar in der Sphäre des Allerheiligsten, wo sie sich paart mit der hieratischen Hoheit der Heilsgestalten. Dieser Sphäre gehören die Bodhisattvas an, die hier riesenhaft aufragen. Ihre kaum angedeutete Körperbiegung ist eine Interpretation der indischen Tribhanga-Haltung, deren starke Bewegung vermutlich nach dem Verständnis der Auftraggeber der Würde eines so hoheitsvollen Wesens nicht angemessen war. Die „dreifach gebogene“ Körperhaltung ist zurückgenommen und der strengen, gerade aufgerichteten Stellung (samabhanga) älterer Statuen wieder angenähert. Dadurch wirkt ihre Haltung unentschieden und unbeholfen. Die Vermutung, dass die Bildhauer nicht imstande waren, die Tribhanga-Position darzustellen, wird allein schon durch die Bewegtheit der Wächterfiguren widerlegt. Auffällig ist allerdings eine deutliche Disproportion bei den Begleitfiguren des Buddha: die Übergröße des Oberkörpers und besonders des Kopfes im Vergleich mit dem unteren Teil der Gestalt.

Auch die Bodhisattvas besitzen jene plastisch gerundete Körperlichkeit der Wächterfiguren. Noch stärker als bei diesen kommt hier die Gewandbehandlung zur Geltung: in großzügigen Bögen schwingen Bänder und Tücher in tief eingeschnittenen Faltenbahnen über die Figur. Krone, Haarflechten, Geschmeide und Ketten bereichern die ornamentale Fülle. Die gesamte Gestalt ist von einem rhythmischen Liniengeflecht überzogen. Der Gegensatz von plastischer Form und linearer Zeichnung ist aufgehoben und zu einer geschlossenen Einheit gebracht, die wie selbstverständlich erscheint.

Unmittelbar neben der zentralen Skulptur des Heiligtums erheben sich Kashyapa, der erste Patriarch des ersten buddhistischen Ordens (sangha), und Ananda, der jüngere Lieblingsschüler des Buddha Shakyamuni. Die Figur des Kashyapa ist fast völlig zerstört, die des Ananda ist bis auf die Hände erhalten . Seine Mönchskutte fällt in großen, einfachen Faltenkurven, der Ausdruck des jugendlichen Gesichts zeigt gelassene, lächelnde Ruhe. Innerer Friede spricht aus diesen Zügen. Die Teilhabe an der Erlösung verheißenden Buddha-Welt enthebt die Jünger dem irdischen Getriebe und allen heftigen Regungen. So verharren die Begleiter des Buddha in erhabener Ruhe: sie stehen in samabhanga im Gegensatz zu der aktiven Dynamik der Wächter. Von daher erscheint die Abnahme der Bewegung vom Außenbereich des Heiligtums nach innen, von der Rastlosigkeit des weltlichen Lebens zur absoluten Ruhe des zentralen Buddha wie Programm.

Und endlich dessen gewaltige Gestalt, die Verherrlichung des höchsten der fünf kosmischen Buddhas, des transzendentalen Vairocana, aus dem, nach Auffassung einer Glaubensrichtung, alle Buddha-Welten hervorgegangen sind . Er wird im Zenit des Kosmos gedacht. Hinter ihm steigt eine riesenhafte, flammende Mandorla auf über die gesamte Höhe der Felswand bis zur ehemaligen Tempeldecke. Den mächtigen Kopf umstrahlt eine zweite Flammenaureole, in deren Mitte ein Lotoskranz, besetzt von den sieben thronenden Buddhas der Weltzeitalter in Begleitung ihrer Bodhisattvas. Der „Überallhin Leuchtende“ war in der Lotossitzhaltung (padmasana = lian hua ze) dargestellt wie man an den Umrissen des zerstörten unteren Teils der Figur oberhalb des Thrones erkennen kann. Die Armreste deuten auf die Gesten der Schutzgewährung und der Wunscherfüllung siehe auch. In großen Kurven fällt das dünne Mönchsgewand von den breiten, gerundeten Schultern über Oberkörper und Arme herab. Der wohlproportionierte Leib zeichnet sich darunter in vollendet modellierter Plastizität ab. Die Krönung aber ist der Kopf . Die vollgerundeten Züge strahlen abgeklärte Ruhe aus und sind dennoch voller Leben. Die sensibel geschwungenen Lippen lassen den Hauch eines Lächelns ahnen. In weiten, hohen Kurven überspannen die Brauenbögen groß geschnittene, mandelförmige Augen, die halb geschlossen sind. Entrückt und dennoch dem Verehrer zugewandt schaut der Erleuchtete herab - selten erreichte Verschmelzung von majestätischer Hoheit und menschlichem Empfinden.

Ein Pferderelief vom Grab des Kaisers Tai zong bei Liquan, Shaanxi

Die größere Naturnähe im Vergleich zu den abstrahierenden Werken der Sechs-Dynastien-Zeit, wie sie sich in der buddhistischen Kunst zeigt in einer geschmeidigeren Körperlichkeit und einer stärkeren Bewegung der Figuren, tritt uns auf andere Weise in Motiven des Grabkults entgegen.

Im Jahre 636 ließ Kaiser Tai zong seine sechs Lieblingspferde für sein Grabmal bei Changan als Steinreliefs abbilden und verfasste eine poetische Hommage auf sie. Vier dieser Reliefs befinden sich heute im Shaanxi Provinz Museum, Xi’an, zwei im Universitätsmuseum, Philadelphia.

Eine der Reliefplatten von Philadelphia zeigt einen stämmigen Hengst im Profil von links und einen bewaffneten Krieger von rechts in der Uniform der kaiserlichen Garde . Wie die übrigen, annähernd lebensgroßen Darstellungen, scheint es sich um ein echtes Tierporträt zu handeln, worauf gewisse Unterschiede in Proportion, Muskulatur oder Haltung der sechs Pferde hindeuten. Die Tiere wirken kraftvoller und größer als die kleinen Steppenpferde der Han-Zeit, jedoch feinnerviger.

Das vollständig gesattelte und gezäumte Pferd weicht etwas von dem Reiter zurück, die Vorderbeine sind leicht schräg gestellt als stemme es sich nach hinten gegen einen unsichtbaren Zug. Die linke Hand des Kriegers liegt flach auf der Brust des Pferdes, und er streckt ihm auch den rechten Arm entgegen. Die rechte Hand ist abgebrochen und nur noch in Umrissen zu erkennen. Der dazugehörige Text erklärt die Szene: ein General der Tang-Truppen befreit das kaiserliche Kriegsross von einem Pfeil, der in seiner Brust steckt.

Obwohl es sich um ein Flachrelief handelt, das bei weitem nicht die Tiefe und fast vollrunde Plastizität der Höhlenreliefs erreicht, sind Mensch und Tier mit einer Volumen suggerierenden Körperlichkeit erfasst: das Gewand des Kriegers, der muskulöse Hals und die volle Brust des Pferdes, die mächtige Kuppe, die schweren Hufe. Und obwohl das Ornament sparsam eingesetzt ist, nur auf die wichtigsten Details beschränkt und in spannungsvollem Wechsel mit den gerundet modellierten Flächen der Körper, herrscht dennoch die Zeichnung vor, die klare Definition des Motivs, die durch die Linie erreicht wird. Allein schon im Umriss sind die Ausdrucksbewegungen von Reiter und Pferd prägnant angelegt: das Vorschreiten des Reiters, das vorsichtige Zurückweichen und dennoch Widerstehen des Hengstes. Die genaue Binnenzeichnung gibt den Mantel des Kriegers mit wenigen Falten wieder, Gürtel, Köcher und Schwert, Zaumzeug des Pferdes, einige Muskel und Sehnen, die drei aufrecht stehenden Bündel der Mähne und den verknoteten Schwanz. Das Ganze ließe sich auf eine reine Linienzeichnung reduzieren.

Dadurch würden die plastischen Qualitäten des Werkes verloren gehen, die Meisterhand verraten. Der Meister ist jedoch unbekannt, denn Bildhauer galten als Handwerker, nicht als Künstler. Selbst wenn diese Reliefs nach Pferdebildern des berühmtesten Hofmalers der Zeit, Yan Liben siehe auch, angefertigt wurden wie überliefert ist, so sind es doch Übertragungen von absolut eigenem Wert, welche die monumentale Bildhauerkunst der Tang zu einem Höhepunkt führten.