Die Reliefs
Ist schon die architektonische Behandlung des Torbaus ungewöhnlich, so sind seine Reliefs einmalig, sowohl in ikonographischer Hinsicht als auch in ihrer künstlerischen Qualität. Von den Flachreliefs der Portaleingänge ist das Bogenfeld der Südseite das ausgefallenste . Es entwickelt sich zwischen einem Rundbogenfries, der bis zum Gesims der Terrasse reicht und der abgekanteten Toröffnung. Die Mitte beherrscht Garuda siehe auch, König der Vögel und Reittier des Hindu-Gottes Vishnu, der hier allerdings nicht erscheint. Der runde Kopf Garudas ist menschenähnlich mit menschlichen Ohren, die schwere Ohrringe tragen, mit großen runden Augen und einem eulenartigen Schnabel anstelle einer Nase über Mund und Kinn. Auch sein nackter Leib und seine ausgebreiteten Arme und Hände vor den ausgespannten Flügeln sind menschengestaltig. Er ist reich geschmückt mit Krone, Wunschjuwel und sich windenden Schlangen. Eine trägt er nach Art der Brahmanenschnur um die Schulter. In den Zwickeln zwischen Krone und Flügeln sind zwei altchinesische Symbole dargestellt: ein Hase mit Mörser und Stößel für den Mond, ein Rabe für die Sonne. Sie deuten den kosmischen Rang des Göttervogels an. Seine angezogenen Beine sind mit schuppenartigem Gefieder überzogen. Sie enden in Raubvogelfängen, welche er in die Beine zweier nach beiden Seiten fliehender Nagarajas gekrallt hat. Auch sie entstammen der indo-tibetischen Mythologie. Es sind Schlangenkönige und als Erdwesen die Feinde Garudas. Sie erscheinen in menschlicher Gestalt, sind nackt bis auf einen kurzen Lendenrock und ebenfalls mit Geschmeide geschmückt. Ihre Kronen bestehen aus sieben juwelengekrönten Kobrahäuptern, die sich fächerförmig ausbreiten. Hand- und Fingerhaltung, die rückwärtsgewandte Körperdrehung, der Lauf mit angewinkelten Knien, all dies ist vom indischen Tanz inspiriert, so, wie es seinen Niederschlag in der bildenden Kunst Indiens fand. Die dicken Schuppenschwänze der Nagas winden sich in Spiralen seitwärts, wo sie in ein Blätterrankenwerk übergehen, in die Weinranken der Wunscherfüllung, ebenfalls ein altindisches Motiv. Am Fuß des Bogens, der an beiden Seiten auf Lotoskapitellen ruht, verwandeln sich die Ranken in Kopf, Brust und Vorderpranken zweier blätterspeiender Fabelwesen mit Hörnern und hochgereckten Rüsseln: es sind Makaras. In der altindischen Mythologie erscheinen sie im Zusammenhang mit Flussgöttinnen, also Spenderinnen von Fruchtbarkeit siehe auch .
Neben seiner kosmischen Symbolik, dem Dualismus von Erd- und Himmelswesen, ist das gesamte Relief also durchdrungen von glückverheißenden Zeichen. Ihre Einzelmotive sind indischen Ursprungs, nicht aber ihre Kombination. Sie stammt aus Nepal, wo noch heute zahlreiche Tempeleingänge mit diesem Motiv geschmückt sind, und wo über dem Garuda anstelle Vishnus oft ein Buddha thront. Tatsächlich hat ein nepalesischer Meister namens Anigo nach 1280 in China gewirkt. Wenn nicht ihm selbst, so darf man die Reliefs des Guo jie ta einem seiner Schüler zuschreiben.
Der Rundbogenfries, welcher das Relief nach außen abschließt, deutet im Scheitel einen Spitzbogen an, wie er sich ebenfalls an den nepalesischen Portalen findet, nur ausgeprägter. Der Fries ist mit blätterförmigen Flammenmotiven überzogen. Er wird deutlich abgegrenzt von den Reliefdarstellungen durch eine schmale Bordüre, die abwechselnd von Lotosblüten und Doppelvajras geschmückt ist. Der Vajra (Donnerkeil oder Diamant) ist das Symbol des Vajrayana, des „Diamant-Fahrzeugs“, der Glaubensrichtung, welcher der tibetische Buddhismus angehört. Flammen, Vajras und Lotos aber bilden den magischen Schutzkreis, der ein Mandala umfängt. Er schließt hier aber nicht nur das Bogenfeld mit Garuda und seinen Begleitern ein, sondern sinngemäß das gesamte Portal. Wer es betritt, dringt ein in den magischen Zirkel einer der unzähligen Vajrayana-Welten.
Von ihr sind die Darstellungen im Inneren des Torbaus bestimmt. An den Wänden sind magische Formeln (Dharani) in sechs Sprachen eingemeißelt. Die Buddhas der zehn Weltrichtungen an den Decken, alle im Meditationssitz, entsprechen durchaus chinesischer Tradition . Sie sind umgeben von hunderten winziger Buddhas in verschiedenen Haltungen, Emanationen der großen Welten-Buddhas. Die beherrschenden Gestalten der vier Lokapalas, der Wächter-Könige der Himmelsrichtungen (Tianwang) und ihre Begleiter sind von einem anderen Geist durchweht. Dies im wahrsten Sinne des Wortes: ihre Tücher und Schärpen umwehen sie, bauschen und schlingen sich wie vom Sturmwind erfasst. Die heftige Dynamik geht von den gewaltigen Gestalten selbst aus. In ihrer Wildheit erscheinen sie wie das Zentrum eines Wirbelsturms, während sie unter dem Thron kauernde Dämonen mit den Füßen zerstampfen. Sie haben zwar die „Gelöste Sitzhaltung“ eines Großkönigs eingenommen, wobei ein Bein angezogen ist und das andere vom Thronsitz herabhängt, jedoch ist nicht eine Faser der vor Kraft schier berstenden Gestalten zur Ruhe gekommen. Die klassische Positur ist derart verwandelt, dass sie den Eindruck eines gewaltigen Sprungs vermittelt. Die Diagonalbewegung nach links bzw. nach rechts unten verstärkt diese Wirkung. Dennoch bleiben die Herrscher der Himmelsrichtungen auf ihrem Platz und ihre geballte Dynamik beruhigt sich an den Rändern der Komposition. Sie werden flankiert von grimmig blickenden Wächtern mit drohenden Gebärden. Nur Virupaksha, Himmelskönig des Westens, hat zu seiner Rechten einen chinesischen Würdenträger in langem Gewand, mit Beamtenhut und der Hu-Tafel in den Händen. Die mächtigen Schultern und die kraftvollen Leiber der Herrschergestalten sind von einer prächtigen Rüstung eingehüllt wie sie die Himmelskönige seit der Tang- Zeit tragen. Ihre Gesichter sind von ähnlichem Typus. Sie zeigen die fleischigen Züge eines vierschrötigen Ringkämpfers. Die Augenbrauen sind zornig nach oben gezogen, die Stirn ist gerunzelt, die weit aufgerissenen Augen blicken drohend. Über dem breiten vorgeschobenen Kinn, dem zusammengekniffenen Mund biegt sich eine breite Boxernase. Die Charakterisierung von unwiderstehlicher Gewalt, ja Brutalität, ist hier mit geradezu portraithaftem Realismus gelungen, ohne die Formalisierung, welche diesem Gestalttypus in der chinesischen Kunst sonst eigen ist.
Auf dem schweren Haupt sitzt die Lama-Krone. Sie kennzeichnet diese Weltenwächter als tibetische Gottheiten. Sie sind mit den Attributen ihrer Wirkungsmacht dargestellt: den Norden beschützt Vaishravana (Duowen Tianwang) mit Schirm , den Süden Virudhaka (Zengzheng Tianwang) mit Schwert , den Westen Virupaksha (Guanmu Tianwang) mit der Schlange , den Osten Dhrtarashtra (Chiguo Tianwang) mit der Laute Pipa .
Die tibetische Ikonographie gab solchen Schutzgottheiten ein besonders schreckenerregendes und dämonisches Aussehen. Die chinesischen Himmelskönige wurden streng bis zornig dargestellt. Niemals jedoch wurde dieses Thema mit der gleichen Ausdrucksdichte und Überzeugungskraft gestaltet. Einem begnadeten Künstler war es gegeben, die inhaltliche Spannkraft und Spiritualität des Vajrayana mit chinesischem Gestaltempfinden zu verschmelzen. Auf gleicher Höhe steht die handwerkliche Meisterschaft: von den typisch chinesischen Wolken bis zur kleinsten Schmuckform an Krone und Rüstung ist jedes Detail herausziseliert, ohne den großen Atem der Komposition zu hemmen.
Die traditionelle Rolle der Himmelskönige als kosmische Wächter und damit als Beschützer des Staates wurde von den mongolischen Kaisern propagandistisch genutzt. Mit ihrer Hilfe verknüpften sie den alten chinesischen Staatsgedanken mit dem Lamaismus, den sie in China populär zu machen suchten. Dass sie dies hier an der Grenze zum alten chinesischen Reichsgebiet manifestierten, verlieh diesem Platz besondere Bedeutung. Dabei entstand das außerordentlichste Werk der Bildhauerei jener Epoche.