Motive auf Grabfunden

Die Grausamkeit dieser Bestattungskulte spiegeln ihre Werkzeuge. Die Zeremonialäxte , mit denen diese Opferungen vorgenommen wurden, tragen Reliefs mit Darstellungen von tödlicher Bedrohung: zwei Tiger verschlingen ein abgeschlagenes Menschenhaupt, ein weit aufgerissener Rachen mit spitzen Zähnen und doppelter Zunge gähnt uns entgegen oder eine dämonische Fratze mit bleckenden Zähnen, gleichsam das Antlitz der Axt, blickt uns an: Botschaften des Schreckens, die Axt als Gewaltsymbol der königlichen Macht über Leben und Tod. Um im Jenseits von den Vorfahren huldvoll empfangen zu werden, mussten im Diesseits Ströme von Blut fließen, wenn ein Shang-Fürst vor seine Ahnen trat.

Ähnliche Motive finden sich auch auf Trink- und Speisegefäßen, die dem Abgeschiedenen ins Grab gegeben wurden: Tiger mit zwei Leibern und einem Kopf, die einen Menschen fressen , Drachen, Schlangen, Vögel, Zikaden, dämonische Masken. Insbesondere ein Motiv kehrt immer wieder, das dem unkundigen Auge zunächst wie ein verschlungenes Spiral-Ornament erscheint: das tao tie, „der Fresser“ . Diesen Namen verliehen ihm Gelehrte der Song-Zeit (960-1279), als seine ursprüngliche Bedeutung in Vergessenheit geraten war.

Nach einer alten Legende gab es einst ein menschenverschlingendes Ungeheuer, das zur Strafe dafür Leib und Unterkiefer verlor. In der Song-Zeit erklärte man diese Darstellung moralisierend als Allegorie der gerechten Strafe für Habgier.

Wenn auch der Ursprung dieses Wesens im Dunkel bleibt, so handelt es sich doch um eine dämonische Erscheinung, die Schutzfunktion hatte. Sie sollte unheilvolle Mächte abwehren. Man schrieb ihr unmittelbare magische Wirksamkeit zu. In dem frontal gegebenen Kopf des Fabelwesens sind am ehesten die schräggestellten, starrenden Augen zu erkennen. Zu beiden Seiten der Achse zwischen Schnauze und Stirn entfaltet sich das Ungeheuer in strenger Symmetrie: Oberkiefer mit Fangzähnen, darüber zwei C-förmige Hörner. Der Körper ist nach beiden Seiten aufgeklappt und zeigt je zwei rudimentäre Klauen, Beine und Schwänze. Man könnte darin auch zwei Tierleiber sehen mit einem Kopf. Der suggestive Ausdruck von Gefährlichkeit - und dies war die künstlerische Absicht - geht jedoch von der Frontalsicht aus. So gesehen wirkt das dämonische Wesen, einem Tiger gleich, wie zum Angriffssprung geduckt. Die Bedeutung des tao tie kann gar nicht überschätzt werden. Die Shang-Künstler bildeten es mit solcher Beharrlichkeit auf fast allen Ritualgegenständen ab in den vielfältigsten Variationen, dass die Vermutung nahe liegt, es habe eine überirdische Macht verkörpert, ja, vielleicht sah man es als göttliches Wesen an. Es ist das wichtigste Motiv der Frühzeit und geradezu Kennzeichen des Shang-Stils. Später taucht es in der chinesischen Kunstgeschichte immer wieder auf, wenn auch mehr und mehr abstrahiert und zum dekorativen Muster verkommen.