Tiere in der Landschaft

Anonym

Hirsche und Hindinnen in einem Ahornwald

Eine weitere Spielart der knochenlosen Malerei repräsentieren zwei Hängerollen eines unbekannten Meisters im Palastmuseum von Taipei, Taiwan, die man ins 10. Jahrhundert datiert hat: „Hirsche und Hindinnen“ .

Je eine Gruppe lebendig erfasster, in Bewegung und Haltung genau beobachteter Hirschkühe mit ihren Platzhirschen sind in einer Waldlichtung dargestellt. Aufgeschreckt stehen sie und wittern angespannt verharrend in eine Richtung. Nur eines der Tiere äst friedlich weiter, während andere sich alarmiert erheben. Wie von einem Hügel herab schaut man von oben auf die Lichtung in der altbekannten chinesischen Sichtweise. Die Tiere sind übersichtlich neben- und übereinander gruppiert. Im Vordergrund, d. h. am unteren Bildrand, fließt ein Bach. Von hier aus türmen sich Bäume und Büsche übereinander, sodass sie die gesamte Bildfläche füllen, unterbrochen nur von der Lichtung etwa unterhalb der Bildmitte. Die reiche Palette in differenzierten Abstufungen von Orange, Ocker, Rot, Grün und einer Vielfalt von Zwischentönen, oft mit Weiß gebrochen, evoziert die farbige Pracht eines Herbstwaldes.

Die Brauntönung des Fells modelliert die Hirschleiber bei sparsamster Verwendung von Linienzeichnung. Nur Stämme und Äste ergeben dort, wo sie aus dem dichten Blattwerk hervortreten, eine kräftigere Linienstruktur. Die Blätter selbst sind vom zarten Lineament der Blattrippen durchzogen.

Geht man von den Proportionsverhältnissen zwischen den Tieren und ihrer Umgebung aus, scheint es sich um Landschaftsbilder zu handeln. Der Wald dominiert. Er breitet sich über das gesamte Bildfeld und ist an den Rändern so angeschnitten, als sei er ehemals darüber hinaus gewachsen. Vielleicht sind die Seidenrollen einmal verkleinert worden. Dennoch fehlen der Komposition die typischen Merkmale eines chinesischen Landschaftsbildes. Die Fernsicht ist verstellt, es entsteht kein Raumeindruck. Der Wald bildet ein ungemein reiches, teppichartiges Muster, gleich einem Vorhang. Gerade aber wegen dieser dekorativen Flächigkeit sind es die Tiere, auf welche die Aufmerksamkeit gelenkt wird.

Von ihrer Auffassung her gehören die „Hische und Hindinnen“ in den Bereich Tiere und Pflanzen. Die Einfühlung in das Wesen der Tiere, die liebevolle und genaue Naturbeobachtung wird ganz dem Anspruch des Themenkreises gerecht. Zugleich geben diese Bilder eine Vorstellung von Art und Qualität jener dekorativen Wandbehänge in den Palästen des 10. Jahrhunderts, von denen uns berichtet wird.