Chan-Maler
In den Kreis der Literatenmaler fanden auch Maler Aufnahme, denen die Suche nach persönlichem Ausdruck nicht das höchste Anliegen war. Ihr Ziel war Erkenntnis, Erleuchtung. Die Malerei diente ihnen dazu als ein Mittel unter anderen. Es waren Mönche des Meditations-Buddhismus, der Chan-Schule (jap. Zen). Ebenso wie die Literatenmaler betrachteten sie sich als ungefesselt von akademischen oder sonstigen Schulkonventionen und beide Gruppen lehnten äußere Formenähnlichkeit als höchsten Zweck der Kunst ab. Eine besondere Anziehung muss Li Longmian auf die Chan-Maler ausgeübt haben. Sicherlich nicht wegen seines Realismus, sondern wegen seines Interesses an buddhistischen Stoffen, die er in seinem klaren Linearstil behandelte. Die Tuschmalerei der Chan verdankt ihm gewiss Wesentliches. Ihr freier Umgang mit Tusche und Pinsel, ihrem einzigen Werkzeug, ihre Ablehnung aufwendiger künstlerischer Techniken entsprachen ganz den Vorstellungen der Literatenmaler. Im Ergebnis waren Wen ren- und chan-Malerei kaum zu unterscheiden. In ihren besten Beispielen ist stets der erste Eindruck die ungeheuere Freiheit, die scheinbare Leichtigkeit und Unbekümmertheit um jede Regel, womit der Bildgegenstand im wahrsten Sinne des Wortes „hingeschrieben“ ist.
Bei aller Geistesverwandtschaft entsprang dieser Stil unterschiedlichen Quellen. Der rational-konfuzianisch gebildete Intellektuelle suchte die Freiheit seiner Aussage, und damit seinen Persönlichkeitsausdruck, mit kritischem Bewusstsein zu erlangen, wobei die augenblickliche Inspiration nicht ausgeschlossen blieb. Der Chan-Buddhist suchte mit Hilfe von Intuition die Wahrheit hinter dem Abbild der Dinge.
Ihre Gestaltungsmittel waren die gleichen. Was schon früh galt in der chinesischen Malerei wurde nun fast zum ausschließlichen Kriterium: die Bedeutung der Linienzeichnung. Es kam darauf an, dem Dargestellten „Knochen“ einzuverleiben, d. h. Kontur zu geben siehe auch. Erst die schwarze Umrisslinie und die Binnenzeichnung gaben nach chinesischem Empfinden einem Bild Struktur. Die abendländische Malerei war nach dieser Auffassung „knochenlos“ siehe auch.
Die Chan-Künstler arbeiteten im wesentlichen mit Tuschelinie und flüssiger Lavierung. Ausgehend von der Praxis der Kalligraphie, welche ja grundsätzlich die Pinselführung in der chinesischen Malerei bestimmte, wurden sie Meister des „Tuschespiels“ (mo xi), das wahrscheinlich auf Mi Fu zurückgeht siehe auch, der es jedenfalls als erster beschrieben hat. Technisch meinte er damit die malerische, gleichsam spielerische Verwendung der mehr oder weniger verdünnten Tusche in verwischten Flecken und Tupfen. Der Begriff weist jedoch über seine Bedeutung als terminus technicus hinaus: auf eben jene Freiheit der künstlerischen Ausdrucksweise, die keiner Norm verpflichtet, allein sich selbst verantwortlich ist und sich erfüllt im sozusagen „absichtslosen“ Spiel. Schnelle Ausführung war für das Gelingen Vorbedingung, ebenso wie nach Chan-Auffassung die plötzliche Erleuchtung dem Adepten mitten in alltäglichem Tun zuteil werden konnte. Solcher Art Vollendung gingen voraus unendliche Übung und meditative Versenkung in den Gegenstand der Darstellung. Die Kunst der Andeutung und des Weglassens wurde von den Chan-Malern zu einem Stilmittel erhoben, das dem Bildthema mehr Tiefe und Aussagekraft verlieh, als eine noch so beredte und detaillierte Schilderung.
In der Landschaftskunst der Süd-Song hatte sich im späten 12. Jahrhundert eine stimmungsvolle Malerei entwickelt, worin die gegenständlich fassbaren Bildteile in eine der unteren Bildecken konzentriert wurden, während der größte Teil der Komposition aus atmosphärischer Leere bestand: der „Eineck-Stil“ siehe auch. Seine Hauptvertreter waren Ma Yuan und Xia Gui.
Die Chan-Künstler arbeiteten aus einer verwandten Einstellung heraus, sodass eine wechselweise Beeinflussung nahelag. Sie führten das Konzept in einem vertieften Sinne weiter, ohne dem Kompositionsschema zu folgen. Für sie war die „Eineck-Theorie“ nicht Mittel zur Stimmungserzeugung, sondern sie wurde ins Geistige erweitert: sie zeigten sozusagen nur eine „Ecke“ des Seins, ein Teil stand für das Ganze. Eine meist kleine, ausschnitthafte Welt, welche der wahre Betrachter einfühlend mitgestalten musste.
Diese Malerei erfasste alle Motive von der Figur, über die Tierdarstellung, sowie Pflanzen und Früchte bis hin zur Landschaft. Ihre Sichtweise, das Buddhawesen selbst in den geringsten Dingen zu erschauen, erfüllte jeden Pinselschlag der Chan-Meister mit pulsierendem Leben, das sich vollständig dem Gegenstand mitteilte.
Liang Kai
Der bedeutendste Figurenmaler des freien Stils war Liang Kai (tätig Anfang des 13. Jhds.). In seinen frühen Jahren soll er einen Figurenstil studiert haben, der in der Traditionslinie Li Longmians stand. Er wurde an die Akademie von Hangzhou berufen, die nach dem Fall von Kaifeng in der Hauptstadt der Süd-Song neu gegründet worden war. Von 1201 bis 1204 wirkte er hier als Daizhao, „Maler in Aufwartung“. Es war der höchste Titel, der einem Hofmaler verliehen wurde siehe auch. Ebenso erhielt er vom Kaiser den Goldenen Gürtel, die höchste Auszeichnung. Trotzdem gab er seine hohe Stellung auf und verließ die Akademie, um frei wirken zu können. Das Kloster Liutong si bei Hangzhou, ein Zentrum der Chan-Malerei, gewährte ihm später Aufenthalt. Gründer und Abt des Klosters war Mu Qi, der andere große Meister der Chan-Kunst siehe auch.
Mit Recht zählt man auch Liang Kai zu den Chan-Malern, auch wenn es nicht gewiss ist, ob er jemals in den Orden eintrat. Seine Auseinandersetzung mit typischen Chan-Themen, vor allem aber seine Malweise, atmen ganz den Geist des Meditations-Buddhismus.
Der sechste Patriarch beim Bambushacken
Der sechste Patriarch zerreißt die Sutras
Bilder wie „Der sechste Patriarch beim Bambushacken“ oder „Der sechste Patriarch zerreißt die Sutras“, beide im Nationalmuseum, Tokyo, gehören zu den besten Beispielen solcher Motive . Sie zeigen eine augenblickskurze Situation, in welcher, wie von der aufzuckenden Helle eines Blitzes, dem Chan-Patriarchen Hui Neng Erleuchtung zuteil wird. Sie enthalten zugleich ein Paradoxon, vergleichbar dem der gong an (Jap. Koan), jenen rätselhaft-widersprüchlichen Meditationsaufgaben, die der Chan-Meister seinem Schüler stellt. In einem Falle wird der Patriarch bei einer banalen Beschäftigung gezeigt. Nichts weist auf eine Besonderheit hin. Was aber rechtfertigt eine solche Darstellung, da es sich ja nicht um eine Genreszene handelt? Allein der wichtigste Moment im Leben eines Heiligen: die Sekunde der Erleuchtung. Die höchste geistige Erfahrung wird ihm gewährt inmitten der Trivialität alltäglicher Verrichtung. Im anderen Fall vernichtet der Heilige im Zorn das Heiligste: die Worte Buddhas. (Es gibt sogar die Darstellung der Zerstörung einer Buddha-Statue). Er demonstriert damit die Vergeblichkeit des Studiums der heiligen Texte (oder der Anbetung). Ein weiteres Paradoxon liegt in der Art, wie diese Themen behandelt sind. Obwohl es sich um Fragen von tiefstem existenziellen Ernst handelt, sind die Darstellungen von souveränem Humor durchdrungen, sodass die Gestalt des Patriarchen nicht in unnahbare hieratische Ferne gerückt ist, sondern er ganz als Mensch in seinen Schwächen erscheint. Das Schlagartige des Geschehens ist auch im Malvorgang enthalten: es sind tatsächlich Pinselhiebe, kurz und zackig wie Blitzschläge, welche die heftig bewegte Figur sporadisch umreißen und durchfahren, ein kalligraphisches Gefüge, aus dem die Metapher einer menschlichen Gestalt aufscheint.
Die Wischspuren eines Besens oder eines zerfaserten Bambusstummels, meist mit verdünnter Tusche, evozieren Baumstamm, Blätter, Geäst, Gras oder die Bodenstruktur. Man versteht, weshalb Liang Kai nachgesagt wurde, er spare Tusche wie Gold. Was uns skizzenhaft erscheint, ist das Gegenteil: ein genau durchdachtes Ausspielen der Spannungsmomente von Leerfläche und Tuschespur, die Summe einer lebenslangen Erfahrung und höchster innerer Sammlung.
Unsterblicher
Von anderer Art summarischer Gestaltung ist ein daoistischer „Unsterblicher“, der Liang zugeschrieben wird, (Nationales Palastmuseum, Taipei) . Mit breitem, weichem Pinsel und flüssiger Lavierung ohne Linienzeichnung hingesetzt, ersteht hier aus dem hellen Grund eine massige schreitende Gewandfigur. Allein mit einigen Wischern, die sie umschließen, kommt die nackte Leibesfülle zum Vorschein, welche ihre erdhaften Kräfte verkörpert. Der Kopf besteht fast nur aus Stirn, Manifestation seiner geistigen Fähigkeiten. Sie ist durch einen zartgetönten Bogen markiert. Augen, Mund und Nase sind mit wenigen dünnen Strichen und Punkten zu einem winzigen Gesicht zusammengezogen, das Ganze in der Art des „Patriarchen mit Tiger“, der dem Shi Ke (10. Jh.) zugeschrieben wird siehe auch.
Li Taibo
Wiederum gänzlich verschieden in Stimmung und Handschrift ist das „Porträt“ des Dichters Li Taibo im Nationalmuseum, Tokyo . Ein Wunder an Abkürzung und schlagartigem Erfassen eines erhöhten Lebensmomentes, zeigt das Bild den Dichter beim Deklamieren seiner Poesie, worauf das leicht erhobene Profil, der Blick ins Weite und der geöffnete Mund hindeuten. Mit überzeugender Ausdruckskraft wird dies erreicht durch wenige zarte Tuschelinien, -punkte und -wischer, die mit der Pinselspitze wie hingehaucht sind. Die in einen weiten Umhang gehüllte Gestalt gleicht einem Schriftzeichen, das in einem einzigen weichschwingenden Zug hingeschrieben wurde. Dabei ist ein Minimum materieller Substanz aufgewendet worden, gerade so viel, dass dem Betrachter ein höchstes Maß an ergänzender Phantasie offensteht. Der gesamte Bildgrund ist leer, die Figur des Dichters beansprucht nur etwas mehr als die Hälfte des schmalen Hochformats. Es entsteht der Eindruck von unmessbarer Weite.
Mit diesem Werk ist der abstrahierende Linienstil an eine Grenze gelangt, die nicht mehr zu überschreiten war, ohne den Bereich des Anschaulichen zu verlassen und in den der reinen Abstraktion einzutreten. In der bildenden Kunst Chinas wurde dieser Schritt niemals vollzogen. Zugleich aber hat damit diese Seite der figürlichen Tuschmalerei einen Höhepunkt erreicht, der nie mehr übertroffen werden sollte. Zu Recht gehört dieses Bildnis zu den bedeutendsten und berühmtesten Werken der ostasiatischen Kunst.
Shakyamunis Rückkehr aus dem Gebirge
In ganz anderer Weise, jedoch künstlerisch auf der gleichen einsamen Höhe, erreichte ein anderes Werk Liang Kais eine Grenze, nämlich die höchster Expressivität . Die Gestaltungsmittel sind hier aufwendiger - Tusche und leichte Farben auf Seide - die Malweise detaillierter: „Shakyamunis Rückkehr aus dem Gebirge“, im Nationalmuseum Tokyo. Es verdeutlicht die Chan-Auffassung von dem Erleuchteten als einer historischen Persönlichkeit, der seine Lehre wortlos „von Geist zu Geist“ übertrug, Vorbild im Ringen um Erkenntnis. Dieses Bild zeigt ohne jede Idealisierung die abgehärmte Gestalt eines bärtigen Asketen, der nach langer Wanderschaft einen Augenblick verharrend, mit tiefernstem, angespanntem Ausdruck in sich hineinzulauschen scheint. Sein rotes Mönchsgewand, das ihn nur notdürftig bedeckt, ist vom Bergwind erfasst und flattert in zackigen Falten. Er ist barfuß, halbnackt der Wildnis ausgeliefert, die ihn umgibt. Selten ist menschliches Ausgesetztsein, erbarmungslose Einsamkeit, Bitternis und Qual eines inneren Ringens erschütternder dargestellt worden. Mit diesem Werk hat die Ausdruckskunst in der chinesischen Malerei eine äußerste Position abgesteckt, die ihrer unkonventionellen Haltung wegen in China keine Nachfolge fand. In Japan wurde die Chan-Malerei aufgenommen und bis heute fortgeführt.
Hier traf der Geist des Chan-Buddhismus auf verwandte Haltungen. Er fand in den Samurai-Kriegern begeisterte Anhänger. Ihnen entsprach seine Härte und Selbstdisziplin, seine emotionalen Ausbrüche, sein intuitives Erfassen der Dinge unter Ausschaltung der Ratio.