Monumentalplastik des Nordens: die Höhlen von Datong
Als die Nördlichen Wei die Herrschaft über dieses Gebiet errungen hatten, siedelten sie zwangsweise 39.000 Familien in ihre Hauptstadt im nördlichen Shanxi um, nach Pingcheng (oder Dai), dem heutigen Datong. Unter den Deportierten befanden sich zahlreiche Bildhauer und Künstler aus Dunhuang. Sie fanden ein reiches Betätigungsfeld in der zweiten großen Höhlengruppe des Buddhismus in China am „Wolkengrat“ (Yungang) nahe der Hauptstadt.
Hier hatten die Toba-Herrscher Anfang des Jahrhunderts begonnen, Felsenheiligtümer anzulegen. Seit 452 waren fünf Großhöhlen zum Gedächtnis der kaiserlichen Vorfahren im Entstehen, nachdem während einer Buddhistenverfolgung einige Jahre zuvor die Arbeiten an den Kulthöhlen eingestellt worden waren. Gewiss auch unter dem Einfluss der Künstler aus Dunhuang gelang nun zum ersten Mal ein monumentaler Skulpturenstil chinesischer Prägung, der indische Vorbilder verarbeitet hat, die entweder in Form von Votivstatuen unmittelbar oder durch die zentralasiatischen Bildhauer vermittelt hierher gelangt waren. Es entstand eine Gruppe von Werken, die zu den herausragendsten der chinesischen Monumentalbildhauerei gehören.
Ein Hauptwerk der Monumentalplastik
Die teilweise kolossalen Ausmaße der Skulpturen der ersten Phase, die in den Jahren nach 460 entstanden, übertreffen die indischen bei weitem mit Ausnahme der stehenden, heute zerstörten Buddhas von Bamiyan in Afghanistan, die 35 bzw. 53 Meter hoch waren. Die berühmteste Figur des Yungang, der Buddha Shakyamuni der Höhle 20, ist fast 14 Meter hoch, die erhaltene Begleitfigur über neun Meter .
Der untere Teil der Skulptur ist stark verwittert. Dennoch ist erkennbar, dass der Buddha im Lotossitz (padmasana = lian hua zuo) dargestellt ist, die Beine einst kreuzweise übereinander mit den Fußsohlen nach oben, die Hände ineinander gelegt mit den Innenflächen nach oben. Es ist die Meditationshaltung (dhyana mudra = ding yin). Diese Haltung weist immer auf den historischen Buddha, d. h. den Buddha des jetzigen Zeitalters, wenn die Gestalt einzeln als Hauptfigur auftritt. Von den Unterarmen bis hinauf zum Kopf ist das Bildwerk - auch dank geglückter Restaurierung - gut erhalten. Gewaltig wölben sich Brust und Schultern wie es in den kanonischen Texten beschrieben wird und auch der annähernd vollrunde Kopf trägt die wesentlichen Erleuchtungszeichen: Schädelauswuchs (ushnisha = rou ji), das Stirnmal, ehemals eine Haarlocke (urna = bai hao) und lange Ohrläppchen. Der Mund lächelt und die großen, mandelförmigen, leicht schräg geschnittenen Augen sind deutlich geöffnet, im Gegensatz zu späteren Darstellungen. In Form von runden, schwarzen Steinen sind die Pupillen betont hervorgehoben, was dem Blick Lebendigkeit vermittelt, zugleich in Verbindung mit dem rundlichen Antlitz einen puppenhaften Ausdruck hervorruft. Diesen Typus repräsentieren alle Kolossalskulpturen der Frühperiode des Yungang. Trotz der gleichen Erleuchtungszeichen wie sie die Buddhadarstellungen der zeitgleichen indischen Gupta-Kunst aufweisen oder der Kushan-Periode, unterscheiden sich die Skulpturen der Nord-Wei deutlich von den indischen Vorbildern: der Gesichtstypus ist chinesisch.
Im übrigen suchten die Bildhauer sich möglichst eng an die Vorlagen zu halten. So sind eine Reihe Plastiken der Kushan-Zeit aus Mathura und dem nordwestindischen Gandhara erhalten, die den Buddha ebenfalls mit geöffneten Augen zeigen und nicht mit dem in Meditation gesenkten Blick.
Die Giganten des Yungang treten annähernd vollplastisch aus dem Fels hervor. Ihre gerundete Körperlichkeit scheint sich von innenheraus zu dehnen und zu schwellen, ein durchaus indisches Gestaltungsprinzip. Ebenso die Anordnung des Mönchgewands, das bei dem Shakyamuni über die linke Schulter gelegt ist und die rechte Brust frei lässt entsprechend den dünngewandeten Kushan-Buddhas der Schule von Mathura. Wie bei diesen sind die Körperformen unter den Faltenbahnen deutlich modelliert. Gleichwohl sind auch hier gewisse Veränderungen eingetreten. Während die Gewandbahnen der indischen Skulpturen noch eine gewisse Stofflichkeit aufweisen, indem sie sich bauschen, also abgerundete Stege bilden, sind sie hier, als Linien eingekerbt, in ein ornamentales Muster verwandelt. Dieses Linienspiel, zwischen dem flache Stege verlaufen, wird bereichert mit Hilfe von Perlschnüren und dekorativ im Zickzack gefältelten Gewandsäumen. Über der linken Schulter und dem Oberarm führen die Faltenstege nicht vollständig um die Rundung bis zur rückwärtigen Felswand, sondern laufen in lanzettförmigen Spitzen aus.
Ein äußerst seltenes Motiv, das sich nur im nördlichen Teil des indischen Einflussgebietes findet, wie z. B. in Afghanistan, wurde übernommen: auch die rechte Schulter und der Oberarm, die sonst bei dieser Art der Gewanddrapierung frei bleiben, sind hier bedeckt.
Der Buddha Maitreya
Die bis auf den unteren Teil erhaltene Begleitfigur rechts erhebt sich an der Stelle, wo gewöhnlich einer von zwei flankierenden Bodhisattvas steht. Da diese Gestalt eindeutig als ein Buddha gekennzeichnet ist, handelt es sich um den zukünftigen Buddha Maitreya (Mi le fo), also in seinem Stadium als Bodhisattva siehe auch . Er trägt das Mönchsgewand (sanghati) so, dass beide Schultern bedeckt sind in der Art der meisten Buddhafiguren der Gandhara-Tradition und der Gupta-Kunst. Die Gewandfalten enden an den Oberarmen ebenso wie bei der Hauptfigur. Sie überziehen die Gestalt in gleichmäßigen, parallelen Kurven von Schulter zu Schulter, über die Brust bis zum Bauch, von wo sie sich zwischen den Beinen zu kurzen, U-förmigen Stegen verjüngen. Über den Schenkeln führen sie senkrecht nach unten. In fast der gleichen Weise waren die Falten der Buddhas von Bamiyan drapiert, anders als die der Gandhara- und der Gupta-Figuren. Sie liefen über den Oberschenkeln schräg nach unten und zwar in gleichmäßigen Abständen als schmale Wülste. Diese Strukturen entstanden dadurch, dass man über dem Steinkern der Skulpturen Schnüre herabhängen ließ und sie dann mit Stuck überzog.
Der Maitreya hat den rechten Arm angewinkelt, die Hand erhoben mit der Innenfläche nach außen in der Geste der Schutzgewährung (abhaya mudra = shi wu wei yin). Der linke Arm hängt herab. Die zerstörte linke Hand hielt ehemals einen Gewandzipfel nach Kushan- und Gupta-Vorbildern. Später wird die Haltung der Wunscherfüllung (varada mudra = yu yuan yin) mehr und mehr üblich, wobei die Innenfläche der linken Hand nach unten weist, also eine „offene Hand“ zeigt.
Wie genau sich die Bildhauer an die indische lkonographie hielten bzw. an die kanonischen Texte, zeigt ein kaum bemerkbares Detail. Zwischen den leicht gespreizten Fingern ließ man dünne Stege stehen, die keine technische Funktion hatten, etwa um ein Abbrechen zu verhindern. Es handelt sich um eines der Kennzeichen (lakshana = xiang) des Buddha wie es sich schon an Plastiken der Kushan-Zeit findet und in verschiedenen Sutras erwähnt wird: an Händen und Füßen ein Netzgewebe. Es erinnert an die Schwimmhaut von Wildgänsen, deren König der Buddha in einer seiner Präexistenzen war.
Die Gloriolen
Hinter den Skulpturen sind riesenhafte Aureolen in den Fels gemeißelt . Eine äußere Aureole umfasst die Figur vollständig. Ihre Ränder sind von züngelnden Flammenmustern umzogen, ein anschauliches Bild des Lichts, das der Buddha ausstrahlt. Es folgt ein von schmalen Wulstbändern eingefasster Fries, auf dem übereinander geordnet kleine Buddhas in Meditationshaltung erscheinen. Sie symbolisieren die unendliche Zahl transzendentaler Buddhas, welche unzähligen Buddhawelten vorstehen. Sie wurden auch als eine Darstellung des Wunders von Shravasti interpretiert, als Shakyamuni sich in einer Vielzahl von Buddha Erscheinungen manifestierte. Eine ovale innere Aureole umschließt den Kopf. Auch sie wird von einem Flammenkranz eingefasst, in dessen Inneren ebenfalls meditierende Buddhas sitzen. In den Zwickeln zwischen beiden Strahlenkränzen knien anbetende Bodhisattvas dem zentralen Buddha zugewandt. Den inneren Kreis unmittelbar hinter dem Kopf füllt eine Lotosblüte.
Mit geringen Abwandlungen in der Figurenanordnung und dem ornamentalen Schmuck finden sich diese Gloriolen, wenn auch großenteils zerstört, hinter allen Buddhafiguren. Sie sind eigenständige Schöpfungen, die sich völlig von den indischen Gloriolen unterscheiden.
Rings um die Hauptfiguren erscheint eine Fülle von Gestalten: fliegende Himmelswesen, anbetende Bodhisattvas, Heilige und immer wieder hunderte von Buddhas in Reihen kleiner Nischen. Pigmentreste und zum Teil größere, vertieft liegende Flächen zeigen an, dass der gesamte Höhlenkomplex mit lebhaften Farben bemalt war.
Strukturierung der späteren Höhlen
In der späteren Phase des Yungang, die etwa um 475 einsetzt, verschwinden die Giganten. Die Grottenwände sind vollständig mit Reliefs überzogen. Es wimmelt von allen Gestalten des Mahayana-Pantheons, darunter erscheinen auch mehrköpfige und mehrarmige indische Gottheiten, die darin aufgenommen wurden, einzigartig in der frühen buddhistischen lkonographie Chinas . Die Details werden immer ausgefeilter, der Dekor wird immer reichhaltiger aus Lotosblättern und -blüten, aus Rankenwerk, Perlstäben, gerafften Vorhängen und Drachenmotiven. Es herrscht ein wahrer horror vacui. Was aber in der Spätantike Anzeichen von Stilverfall war, ist hier Stilideal: die Gestaltenfülle, das Leben überirdischer Buddha-Welten, soll den Anbeter überwältigen. Auch dies eine indische Auffassung, die nun aber in einem eigenständigen, chinesischen Idiom ausgesprochen wird. Die Buddhas und Bodhisattvas in ihren flammenden Mandorlen, die himmlischen Nymphen und Musikanten, die Stützfiguren kraftstrotzender Zwerge wuchern nicht in gleichsam pflanzenhaftem Wachstum über die Höhlenwände. Sie sind in Reihen angeordnet und architektonisch gegliedert durch horizontale Gesimse, vertikale Säulen oder Strebepfeiler, die Nischen bilden, welche von Bögen oder Sturzbalken überdacht sind. Dies eröffnet weitere Möglichkeiten der Gestaltungsvielfalt: Formen der Holzarchitektur wie Stützen, Konsolensysteme und Ziegeldächer treten hinzu. Der ordnende Sinn für Übersichtlichkeit bei aller Fülle, für Symmetrie und Klarheit hat sich hier durchgesetzt .
Eine Erlöserfigur
In diesen späteren Höhlen des Yungang, wie auch in den Höhlen von Maijishan und Longmen, tritt neben dem Shakyamuni eine Gestalt besonders häufig auf, die in dieser Form kein indisches Vorbild hat. Sie ist nicht im Lotossitz dargestellt, sondern auf einem erhöhten Thron, die Beine überkreuzt auf den Boden gestellt und mit allen Erleuchtungszeichen des Buddha ausgestattet. Oft ist ihr Schädelauswuchs wie ein geschmückter Haarknoten aufgetürmt oder gar in eine Krone verwandelt. Ebenso zeigt sie die meisten Gesten Shakyamunis, wie etwa die Predigtgeste, die das „Anstoßen des Rades der Lehre“ symbolisiert (dharmacakra pravartana mudra = zhuan fa lun yin). Jedoch erscheint die Figur niemals in der Haltung der Meditation, sondern sie wird stets tätig handelnd gezeigt. Es ist wiederum der künftige Buddha Maitreya siehe auch. Seine Beinstellung zeigt an, dass er die Füße soeben auf den Boden gestellt hat, um sich von seinem Thron im Tushita-Himmel zu erheben und auf die Erde herabzusteigen .
Um die Mitte des 5. Jhds. waren tausend Jahre vergangen seit Shakyamunis Eingang ins Nirvana. Die Gläubigen wurden von einer sicheren Messiaserwartung erfasst, was ein Aufblühen des Maitreya-Kultes zur Folge hatte. Hunderte von Bildnissen dieser Erlöserfigur wurden gestiftet auf Stelen und an heiligen Stätten. In den Grottenheiligtümern wurden Nischen angelegt zur Aufnahme solcher Standbilder.
Neben dem am weitesten verbreiteten Typus des Maitreya mit überkreuzten Beinen taucht er nun zum ersten Mal in einer Haltung auf, die später in die koreanischen Kunst Eingang fand und die bis nach Japan wirkte: den rechten Fuß über das linke Knie gelegt - zuweilen auch umgekehrt - sitzt er auf seinem Thron, einen Ellenbogen aufgestützt und die Hand sinnend zur Wange geführt, während die andere Hand auf dem hochgelegten Fuß ruht. Gewiss muss man diese Gestalt als den Maitreya vor seiner Buddhaschaft interpretieren, der im Tushita-Himmel in Nachdenken versunken ist über die Erlösung der Menschen und aller Lebewesen aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Dass er sich noch auf der Seinsstufe eines Bodhisattvas befindet, zeigen der prinzliche Schmuck und die Krone, womit er gewöhnlich erscheint.