Bambusmalerei

Aus den Pflanzen- und Blumensujets kristallisierte sich allmählich eine eigene Gattung heraus, welche Maßstäbe setzen sollte im souveränen Umgang mit Pinsel und Tusche: die Bambusmalerei.

Schon in der Tang-Zeit soll eine monochrome Tuschmalerei geübt worden sein, die sowohl Blumen-, als auch Bambusmotive behandelte. Jedoch erst im 11. Jahrhundert wird die Bambusmalerei als eigene Kunstgattung fassbar.

Das Interesse gerade an dieser Pflanze, besonders der Literatenmaler, ist einmal in der vielschichtigen Symbolik zu suchen, die man von alters her mit ihr verband, und in welcher höchste ethische Werte zum Ausdruck kamen. Gleich allen symbolhaltigen Naturdingen wurde sie auch immer wieder zum Thema der Poesie.

In erster Linie verkörperten sich im Bambus die Mannestugenden. Er biegt sich im Sturm und unter Schneelasten, ohne zu brechen. Und nach überstandener Heimsuchung nimmt er gestrafft und elastisch erneut seine aufrechte Haltung an. Es ist die Art, wie der Weise Widerstand leistet, wie Gewandtheit sich mit Charakterfestigkeit verbindet siehe auch.

Da er seine grünen Blätter nie verliert und sich scheinbar nie verändert, wurde er zum Symbol der Dauer und des Alters, Eigenschaften, die der daoistische Weise anstrebt. Er ist Sinnbild der Bescheidenheit, denn sein Herz ist leer, d. h. sein Stamm ist hohl. Innere Entleertheit aber ist eine Tugend, die der Daoist wie der Buddhist zu erringen sucht. Sie bedeutet, einen geistig-seelischen Zustand der Reinheit zu erreichen, in dem man ohne Wünsche ist. Mithin erscheint der Bambuszweig auch im Zusammenhang mit Guan yin, dem Bodhisattva, der im Volksglauben zur Göttin der Barmherzigkeit wurde.

Der Bambus liefert das Werkzeug des Intellektuellen: das Rohr für den Pinsel und zum Teil auch das Papier, worauf er schreibt oder die Tuschmalerei ausübt. Die nahe Verwandtschaft dieser Disziplin mit der Kalligraphie führt uns zum zweiten Grund, weshalb der Bambus zu einem hochbedeutenden Thema der Malerei wurde.

Es war einer der größten Schriftkünstler des 11. Jahrhunderts, welcher sich immer wieder mit dem Bambus auseinandersetzte: der Dichter und Maler Su Dongpo (1036-1101) siehe auch.

Die Gestalt der Bambuspflanze bietet sich in ganz besonderem Maße an, sie wie ein chinesisches Schriftzeichen zu behandeln siehe auch. So wie dieses eine bestimmte Anzahl von Pinselstrichen erfordert, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen müssen, so können die einzelnen Glieder des Gewächses mit einem einzigen Strich des vollen Pinsels gesetzt werden, je nach Bedarf mit schwarzer oder verdünnter Tusche. Und wie beim Schriftzeichen müssen auch Blätter, Zweige, Stamm und seine Einkerbungen in Anzahl und Verhältnis zueinander stimmen. All dies ergibt einen Rhythmus, der einen persönlichen malerischen Duktus erlaubt, welcher der persönlichen Handschrift gleichkommt. Mal- und Schreibtechnik sind dabei identisch siehe auch.

Diese kalligraphische Darstellungsweise des Bambus scheint eine Erfindung des 11. Jahrhunderts zu sein, jedenfalls gibt es keine älteren Beispiele. Nach der Überlieferung gilt eine Dame Li aus der Fünf-Dynastien-Zeit als Erfinderin des Stils. Sie habe, so wird berichtet, in einer Mondnacht den Schatten einer Bambusstaude auf der Papierbespannung ihres Fensters beobachtet und mit Tusche ausgemalt. Wiederum wird hier der enge Bezug zum Schriftzeichen deutlich: der Schattenriss gibt keine ablenkenden Einzelheiten wieder, sondern er zeigt nur das Wesentliche. Seine klare Gestalt enthüllt das Wesen des Bambus und wird damit zur Chiffre.

Wie neuartig diese Malweise von den Zeitgenossen empfunden worden sein mag, verrät ein Blick auf ältere Bambusdarstellungen: wie alle anderen Motive wurde er mit Hilfe von Konturlinie und Binnenzeichnung aufgebaut und mit Tuschelavierung oder Farbe ausgefüllt. Auf einer Seidenrolle aus Dunhuang mit Guan yin und Stifterfiguren schließen hohe Bambusstauden den Bildhintergrund . Sie sind in dieser konventionellen Art gemalt. Es ist das älteste Beispiel einer Bambusinterpretation aus dem Jahre 910, heute im Britischen Museum. Auch in späterer Zeit setzte sich eine Traditionslinie der konturierten Formulierung des Bambus fort. Man rechnete sie jedoch nicht zur Bambusmalerei. Deren grundverschiedene Anschauung, eben jene kalligraphische Auffassung des Motivs, drückte man in der Bezeichnung „Tusche-Bambus“ aus (mo zhu).

Die Tatsache, dass in diesem Genre das Sujet ohne Kontur nur mit Hilfe der Tuschelavierung aufgebaut wird, entspricht grundsätzlich der Methode der „knochenlosen“ Malerei siehe auch. Dennoch wurde Tusche-Bambus als das genaue Gegenteil empfunden. Galt der mei gu-Stil als strukturlos, so sah man die monochrome Tuschelinie des mo zhu geradezu als exemplarischen Ausdruck reiner Struktur an. Die strukturbildende Konturlinie hat sich darin sozusagen verselbständigt.

Warum aber entstand dieser Stil erst im 11. Jahrhundert, da man doch schon früher sowohl Kalligraphie betrieb, sowie Tuschmalerei ohne Farbe, als auch den Bambus als Motiv kannte?

Es war etwa um diese Zeit, dass sich der Typus des gebildeten Laienmalers herausbildete siehe auch, des Literatenmalers, der die Kunst nicht zum Lebensunterhalt betrieb, sondern ebenso wie die Poesie als freies Spiel, worin er ganz seinen Empfindungen und Neigungen folgen konnte, ohne äußeren Zwang, also unabhängig vom Geschmack eines Auftraggebers. Es waren vorwiegend Beamte und Politiker, die sich, abgestoßen von den Misshelligkeiten ihrer Amtspflichten oder von den Ränken des politischen Alltags, mit verwandten Geistern zusammenfanden, wobei sie ganz ihrer Individualität leben konnten. Dieser Haltung entsprach auch ihre künstlerische Gegenposition zum offiziellen Akademiebetrieb. In dessen Naturimitation sahen sie einen „bedeutungslosen Kunstgriff“, wie Mi Fu äußerte, einer der größten Landschaftskünstler der Epoche siehe auch. Sie setzten auf persönlichen Ausdruck, auf die persönliche Handschrift des Künstlers, durch welche die Natur zur Anschauung gelangen sollte. Wie die Kalligraphie eröffnete in ganz besonderem Maße auch die Bambusmalerei die Möglichkeit freier Entäußerung, ungezwungenen Auslebens der Emotion im freien Spiel der Tusche (mo xi).

Jedoch konnte dies nicht voraussetzungslos geschehen. Die Meister der Bambusmalerei, allen voran Su Dongpo, betonten immer wieder die Notwendigkeit meditativer Versenkung in das Wesen des Bambus, in welchem ihnen der Adel höchster Menschlichkeit anschaulich wurde. Niemand hat die Forderung schlagender formuliert als Su Dongpo: „Wer Bambus malen will, muss selbst zum Bambus werden“. Und in gleicher Weise sollte sich später Li Kan äußern, einer der großen Bambusmeister der Yuan-Zeit siehe auch. Die sich hier grundsätzlich aussprechende Anschauung der Beziehung von Künstler und Naturvorbild bedingte ihre anaturalistische Auffassung. In der knappen, abkürzenden Darstellungsweise des Bambus konnten sie ein Allgemeines im Persönlichen ausdrücken. Die besondere Chance einer geistigen Sublimierung, welche das Bambusmotiv bot, machte es zu einer Art Leitmotiv der Literatenkunst.

Dabei war jedoch das scheinbar so freie Tuschespiel, in welchem die großen Meister ihr Thema formulierten, Ergebnis unendlicher Übung und Disziplinierung. Nicht nur die Fertigkeit der Hand war zu exerzieren, um dem inneren Bild reale Gestalt zu verleihen. Auch die bildnerische Konzeption selbst war nicht völlig der Phantasie des Künstlers überlassen. Wie in allen anderen Künsten galten die alten Meister als Vorbild. Je weiter die Tradition der Bambusmalerei fortschritt, um so zahlreicher wurden die Übungskodizes, in welchen die Regeln der Kunst festgeschrieben waren. Qi yun siehe auch, Lebendigkeit, Erlebnisfrische blieben dabei stets der höchste Maßstab. Nur dem wahren Meister gelang es, den Widerspruch zwischen Regel und Freiheit aufzulösen und auf einer höheren Ebene zu verschmelzen.

Wen Tong

Der berühmteste Kreis von Literatenmalern des 11. Jahrhunderts war die Gesellschaft vom „Westgarten“ siehe auch, die ähnlich den „Sieben Weisen vom Bambushain“ aus dem 3. Jahrhundert, sich bei ihren Zusammenkünften dem Gespräch, der Poesie, der Musik und wohl nicht zuletzt dem Wein widmeten. Su Dongpo galt als ihr intellektueller Anreger. Die wenigen ihm zugeschriebenen Bambusarbeiten rechtfertigen seinen Ruf als Bambusmaler kaum, sei es, weil er diesen Ruf seinem Genie als Dichter und Kalligraph verdankt, sei es, weil es sich um unzutreffende Zuschreibungen handelt.

Dagegen existieren einige Werke, welche den Anspruch des Genres in höchstem Maße erfüllen und die von der Hand seines Freundes und Lehrers Wen Tong stammen könnten, der diesem exklusiven Kreis erlauchter Geister angehörte.

Wen Tong (1018-1079) gilt als der Bahnbrecher des Tusche-Bambus und zugleich als größter Meister des Stils im 11. Jahrhundert.

Bambus

Auf einer Hängerolle des Nationalen Palastmuseums von Taipei, Taiwan, ist das Motiv mit ungewöhnlicher Kühnheit und Freiheit angepackt, „so wie der Falke den Hasen schlägt“ (Su Shi) .

In weit schwingender S-Form biegt sich ein einzelner Bambusstamm vom oberen linken Rand nach unten in das Bildfeld hinein, um dann wieder elastisch nach oben zu streben. In dieser Gestalt erscheint der Bambus kaum in der Natur. Es ist, als sei er niedergebeugt von einer äußeren Gewalt, etwa einer übergroßen Schneelast, und richte sich nun wieder auf: die unsichtbare Hand des Schicksals wird hier anschaulich.

Die mit meisterhafter Sicherheit gesetzten Blattsterne, welche aus den rhythmisch gliedernden Knoten des Stammes hervorsprießen, die jungen, rispenartigen Triebe zwischen den Blättern, dies alles ist voll vibrierenden Lebens. Jeder Zweig und jedes Blatt ist bis in seine Verdrehungen scharf und präzise hingeschrieben, wobei die ferneren Blätter heller laviert sind. Man glaubt, das leichte Wippen von Stengeln und Blattwerk wahrzunehmen, eine wahrhaftige Bewegung der Pflanze. Die Leerfläche des Seidengrundes steht in spannungsvollem Wechselspiel mit den Tuscheformationen, die sich bis zum Bildrand ausbreiten, wo sie angeschnitten sind: außerhalb des Bildraumes wächst die Pflanze weiter. Die Sparsamkeit des Vortrags, die sich keinen überflüssigen Pinselstrich gestattet, entspricht der Ausschnitthaftigkeit der Komposition: nur ein Teil des Gewächses wird uns vor Augen geführt, ein pars pro toto, der das Gesamte evoziert.

Bei aller scheinbaren Naturnähe handelt es sich um alles andere, als um ein naturwissenschaftliches Abbilden. Dem wissenschaftlich nicht fassbaren, ewig geheimnisvollen Vorgang des Wachstums, dem Lebensrhythmus selbst, wird hier nachgespürt. In diesem Suchen nach der inneren Wahrheit der Dinge, das sich nicht auf die äußere Erscheinung verlässt, manifestiert sich eine anaturalistische Haltung, welche ihren Gegenstand verwandelt zur Chiffre, zum Zeichen, zum Symbol.