Grundprinzipien der Landschaftsmalerei

In der Kulturgeschichte der Menschheit haben nur zwei Kulturkreise eine reine Kunst der Landschaftsdarstellung hervorgebracht: der europäische, und, ausgehend von China, der ostasiatische.

Eine erstaunliche Tatsache, wenn man bedenkt, dass alle Hochkulturen bis in die Neuzeit Ackerbaukulturen waren, und dass der Mensch darin stets in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der Natur stand.

Offenbar bedurfte es ganz bestimmter Sichtweisen, die sich nur in städtischen Zivilisationen herausbilden konnten. Jedoch die Entwicklung großer städtischer Zentren allein bewirkt nicht zwangsläufig eine Kunst, die sich ausschließlich mit dem Erscheinungsbild der Natur befasste. Keine der von Städten und Metropolen geprägten Großkulturen der abendländischen Antike und des Mittelalters, Ägyptens, Mesopotamiens, Indiens oder des indianischen Altamerika hat je diesen Schritt getan. In ihrer Weltschau gab es eine Gemeinsamkeit: sie war vollständig vom Numinosen beherrscht. Selbst da, wo die Natur Gegenstand des Reflektierens war, standen die Erscheinungen des Göttlichen so stark im Vordergrund, dass die reine Anschauung der Natur dahinter zurücktrat.

Damit die Landschaft ins Blickfeld der Kunst gelangen konnte, musste ein Lebensgefühl vorherrschen, das getragen war von Distanz zur Natur. Erst im Abstand konnte sie wahrgenommen werden, ohne dass dabei die religiösen Grundanschauungen aufgegeben wurden: das Göttliche konnte sich auch in seiner Schöpfung offenbaren. In Europa ging die Entdeckung der Landschaft einher mit der Ausbildung eines anthropozentrischen Weltbildes zu Beginn der Neuzeit: der Mensch begriff sich als Herrn der Erde, auf die er nun seinen Blick richtete. In China verbreitete sich etwa seit dem Niedergang der Tang-Dynastie eine Grundstimmung unter den Angehörigen der geistig führenden Schichten, die man mit einer Art „Zivilisationsmüdigkeit“ umschreiben kann, mit einem Ungenügen am Dasein, einem Gefühl des Abgeschnittenseins von den Lebensquellen.

Es ist auffällig, dass die ersten Überlegungen zur Landschaftsmalerei, ebenso wie die früheste Naturlyrik siehe auch siehe auch in eine ähnliche Epoche der Katastrophen und der Unsicherheit fallen, in die Zeit der Drei Reiche und der Sechs Dynastien (220-589). Damals suchten gelehrte Männer gerne die Einsamkeit auf, um als Eremiten zumindest zeitweise ein kontemplatives Leben zu führen. Meist war die Aufgabe einer gesicherten Beamtenstellung damit verbunden, was sogar im konfuzianischen Sinne zu rechtfertigen war: in Zeiten eines schlechten Regimes zog sich der pflichtbewusste Mensch von Ämtern und Würden zurück siehe auch.

In der sechsten, der letzten Klasse seiner Liste von Malern, die er im Zusammenhang mit seinen sechs Prinzipien aufgeführt hat, nennt Xie He siehe auch den Maler Zong Bing (375-443). Von ihm ist ein Text überliefert, ein Kommentar zu Landschaftsbildern, die er im Alter an die Wände seines Hauses malte. In dieser Schrift beschreibt er seine Sehnsucht nach Gebirgen und Gegenden, die er in seiner Jugend durchwandert hatte und tröstete sich damit, dass die gemalten Landschaften die gleichen Empfindungen zu erwecken vermögen wie die wirklichen.

„Ist es da nötig, zu den dunklen und gefahrvollen Klippen zurückzukehren? Die göttliche Seele hat keine Grenzen. Sie wohnt den Formen inne und regt alle Dinge an. … Was Landschaften angeht, so haben sie eine stoffliche Seite, wirken aber auch geistig … Die weisen Männer folgen dem dao in ihren Seelen, die tugendhaften fangen es ein in den Formen der Landschaft … “ Und an anderer Stelle: „Die Weisen pflegen das dao und suchen Übereinstimmung und Harmonie mit den Dingen - …“

Wir haben keine Vorstellung davon, wie die Landschaften des Zong Bing aussahen. Nach den Bildern seines berühmten Zeitgenossen Gu Kaizhi zu schließen siehe auch, dürfte es sich um eine Zusammensetzung landschaftlicher Versatzstücke gehandelt haben, um Wolke, Berg, Fluss und Baum als Einzelerscheinungen, und wahrscheinlich noch nicht um homogene Landschaftskompositionen. Seine Erläuterungen machen jedoch Grundeinstellungen deutlich, welche in der Landschaftsmalerei Gültigkeit behalten sollten: die Gleichsetzung der gemalten und der wirklichen Natur, sofern der Geist erfasst ist, der in ihren Formen wirkt und webt. Um dies zu erreichen, muss sich der Maler in Einklang bringen mit seinem Gegenstand siehe auch. Die konfuzianische Unterscheidung zwischen dem Weisen und dem Tugendhaften deutet hier den unterschiedlichen Weg an, ans gleiche Ziel zu gelangen, zur Übereinstimmung mit den Kräften der Natur.

Es war der Daoismus, der schon früh die chinesische Naturanschauung prägte. Das dao (wörtlich „Weg“) war das allumfassende Urprinzip, das allen Erscheinungen zugrunde liegt.

Um eins zu werden mit dem dao, sucht der Mensch die Natur auf. Ihrem alles umfassenden Organismus sucht er, sich einzugliedern. Nicht Naturbeherrschung wie der Europäer strebt er an, sondern Harmonie mit der Natur.

Ein Zeitgenosse Zong Bings war der Maler Wang Wei, der ebenfalls in Xie Hes Liste aufgeführt ist. Auch er lebte im Südstaat Song (420-478). Er schrieb einige Anmerkungen über die Malerei, worin er mit Zong Bings Gedanken übereinstimmt, in welcher Weise die Landschaftsmalerei Stimmungen im Gemüt erwecken kann. Jedoch äußert er sich im Tonfall wahrer Begeisterung über das Wunder an Möglichkeiten, die Welt zu erfassen: „Der Blick auf die Herbstwolken lässt die Seele emporschwingen wie ein Vogel, das Gefühl des Frühlingswindes sendet die Gedanken in weite Ferne … Es bedarf nur einer Handumdrehung, um den Glanz des Geistes ins Bild zu holen.“ Hier wird der Künstler zum Magier. Er bannt nicht nur die sichtbaren Dinge in sein Bild, sondern auch die unsichtbaren, seine Empfindungen und den Geist, der die Natur belebt: Malerei als magischer Vorgang siehe auch.

Aber auch in einem buddhistischen Kontext konnten Natur und Landschaft aufgefasst werden. Dies leistete der Naturphilosoph Xie Ling Yun (395-433), der ebenfalls im Staate Song lebte. Nach seiner Darlegung konnte Erleuchtung auch in der Landschaftsbetrachtung erlangt werden. So konnten Berge und Ströme als das Antlitz Buddhas erscheinen, Berge und Klöster als Orte der Erkenntnis. In der Anschauung der Landschaft erwächst dem Menschen das gleiche visionäre Erlebnis, wie in der Meditation. Bezieht man dies auf die Landschaftsmalerei, so besteht deren Aufgabe darin, eine solche visionäre Erfahrung im Bilde zu erzeugen. Gelingt es dem Künstler, den in der Natur waltenden Geist zu erfassen, dann wirkt die gemalte Landschaft im gleichen Sinn.

Dieser alle Dinge durchwirkende Geist wurde von den verschiedenen philosophischen Schulen und religiösen Richtungen unterschiedlich benannt. Mit der Wiederbelebung des Konfuzianismus im 10. und 11. Jahrhundert fanden buddhistisches und daoistisches Denken Aufnahme in sein System. Genügte der klassische Konfuzianismus noch einer einfach gegliederten Agrargesellschaft, so machten die gesellschaftlichen Veränderungen durch das Aufkommen neuer sozialer Schichten in einem differenzierteren Wirtschaftssystem ein Umdenken notwendig. Was ehedem Domäne des Daoismus gewesen war, die Naturbetrachtung und daraus entwickelte quasi - wissenschaftliche Methoden, trat nun in den Gesichtskreis der Konfuzianer. In verschiedenen Ansätzen suchte der Neokonfuzianismus nach einer umfassenderen Weltsicht, welche menschliche Gesellschaft und Natur in einem zusammenhängenden Ordnungssystem vereinen sollte. In den kosmologischen Spekulationen spielten zwei Begriffe eine grundlegende Rolle, am ausgeprägtesten im Werk des Hauptvertreters der Richtung, Zhu Xi, (1130-1200): li, das kosmische Ordnungsprinzip und qi, die Kraft, welche die Formen der Materie schafft, und wodurch das li in der Phänomenwelt sichtbar wird siehe auch.

In Bergen und Felsen, in Bäumen und Wasser wirkt das gleiche Gesetz wie im Kosmos und im Zusammenleben der Menschen. Konfuzius fasste die Natur ganz aus der Sicht des Menschen auf: „Die Weisen erfreuen sich am Wasser, die Tugendhaften an den Bergen“. Der Neokonfuzianismus führt diese Sicht weiter, indem er der Natur im moralischen Sinne vorbildhafte Eigenschaften zuerkannte. Und zwar nicht allein in ihrer vernunftgemäßen Ordnung, sondern auch in ihren Einzelwesen. So sagt Jing Hao, der erste große Landschaftsmaler des 10. Jahrhunderts: „Die Kiefern des Waldes … sind aufrecht wie der Charakter eines tugendhaften Menschen, der dem Winde gleicht …“. Damit bezieht er sich auf Konfuzius: „Die Tugend eines überlegenen Mannes gleicht dem Wind, der Charakter niederer Menschen dem Gras. Wenn der Wind darüber hinwegfährt, muss es sich beugen“.

Ist aber ein ethischer Sinn in der Natur zu erkennen, so wird sie im konfuzianischen Verständnis ein würdiges Thema für die Malerei. Es entspricht somit nur den Geboten der Moral und eines vernünftigen Denkens, wenn man diese Naturordnung studiert.

Den Naturformen sich anzunähern, bedeutet aber keine naturalistische Malerei. Denn die Naturdinge besitzen ein ihnen eigenes Wesen, das in der Darstellung zum Ausdruck kommen muss. In seinen Aufzeichnungen über die Pinseltechnik, worin ein alter Eremit einen jungen Maler belehrt, führt Jing Hao außerdem aus: „… es ist notwendig, den Ursprung einer jeden Form in der Natur zu verstehen …, Kiefern mögen krumm wachsen, niemals sind sie gewunden … Von Anbeginn stehen sie aufrecht … In manchen Bildern gleichen sie aufsteigenden alten Drachen oder sich windenden jungen …, dies aber ist nicht der Geist und der Rhythmus der Kiefern.“

Geist und Rhythmus waren schon Zentralbegriffe in Xie Hes sechs Prinzipien siehe auch, und sie sind es genauso für Jing Hao. In seinem Essay stellt auch er sechs Grundsätze auf, von welchen die ersten beiden ebenfalls „qi“ und „yun“ lauten, also „Geist, Vitalität, Lebensatem“ und „Rhythmus, Widerhall“. Die Kunst des Malers besteht also darin, eine (letzte, innere) Wirklichkeit zu erfassen - und nicht eine Illusion des Realen - indem er den Geist aus der Form destilliert. „Man soll nicht äußere Schönheit für die Wirklichkeit halten. Wer dieses Geheimnis nicht versteht, wird die Wahrheit nicht gewinnen, selbst, wenn seine Bilder Ähnlichkeit (mit der Natur) haben … Ähnlichkeit kann man erhalten ohne Geist, wenn aber die Wahrheit (in einem Bild) erlangt wird, sind Geist und Wesensgehalt vollkommen darin ausgedrückt. Wer versucht, den Geist mit Hilfe formaler Schönheit zu übertragen, wird nichts als einen toten Gegenstand herstellen.“

Dementsprechend schätzt er den Maler am höchsten, der „ohne Anstrengung die Formen erfasst, indem er den Wandlungen (den Vorgängen) in der Natur folgt.“ Einen solchen Maler nennt er „göttlich“, ihm folgen - ihren künstlerischen Fähigkeiten nach - der „Wunderbare“, der „Verblüffende“ und der „Geschickte“. Der Satz klingt erstaunlich modern. Er erinnert an Cèzannes Ausspruch von der Kunst als einer „Harmonie parallel der Natur“.

Jing Haos eigentliche Ausführungen über die Pinseltechnik und deren ältere Meister zeigen, dass sein Hauptinteresse der monochromen Tuschmalerei galt, und zwar dem Wechselspiel im Gebrauch von Pinsel und Tusche. Wenn er von Farbe spricht, meint er die unterschiedliche Tönung der Tusche, deren „Färbung so selbstverständlich (sein muss), als sei sie nicht mit dem Pinsel aufgetragen.“ Das große formale Problem der Landschaftsmaler des 10. und 11. Jahrhunderts war die Vereinheitlichung des Bildraums, so wie die Philosophen aus einer gleichen geistigen Grundhaltung nach einem einheitlichen Weltbild suchten. Den Malern bot die Reduzierung der Farbe und das Übergewicht der monochromen Tusche ein Mittel dazu.

Sie experimentierten, immer mit Blick auf die älteren Vorbilder, mit verschiedenen Tuschetechniken. Abgesehen von exzentrischen Methoden, die Jing Hao in die Kategorie „verblüffend“ eingeordnet hätte - wie verschüttete Tusche auf der ausgebreiteten Seide, Malen mit abgenutztem Pinsel oder dem eigenen Zopf u. a. m. - befassten sich die Maler mit den verschiedenen Möglichkeiten der Laviertechnik. Insbesondere „die gebrochene Tusche“ (pò mo), deren Erfindung Wang Wei zugeschrieben wurde siehe auch, fand verbreitete Anwendung. Hierbei wurden die mit Tusche ausgewaschenen Flächen durch tiefergetönte Striche und Flecke akzentuiert, also „gebrochen“. Ebenso die „Axthiebe“ (cun), jene Pinselschläge, welche, ausgeführt mit halbtrockener oder flüssiger Tusche, die Handschrift des Künstlers zeigen. Sie dienen zur Kennzeichnung von Gesteinsoberflächen, Felsspalten und Geländefalten. In der Wirkung verglich man sie mit den Fasern ausgebreiteten Hanfs. Beide Arbeitsweisen, zumeist in Kombination, bildeten die Grundlage für die Weiterentwicklung des monochromen Landschaftsbildes. Sie eröffneten weite Möglichkeiten zur Erlangung einer homogenen Oberflächentextur.

Die illustrative Farbigkeit, ja Buntheit der frühen Landschaften, übernommen aus dem Figurenbild, barg die Gefahr des Auseinanderfallens. Diese Gefahr lag ja ohnehin schon in einer Bildstruktur aus Versatzstücken und Raumparzellen, die es zu überwinden galt. Seit den frühen Erzählbildern mit landschaftlichem Hintergrund, wie etwa bei Gu Kaizhi siehe auch, in Dunhuang siehe auch oder auf dem Sarkophag in Kansas City siehe auch, war die Landschaft immer bedeutsamer geworden. Von der knappen Kennzeichnung des Handlungsortes war sie zum integralen Teil der Bildgeschichte geworden, mit bereits eigenständigen Zügen wie in der „Reise des Kaisers Minghuang“. Das Stück dargestellte Welt nahm eine Funktion in der Erzählung an, welche über die einer Staffage hinausging. Die Menschen bewegten sich nun innerhalb der Landschaft, und es war nun die Landschaft, welche dominierte. Jedoch war sie noch nicht zu einem homogenen Organismus zusammengewachsen siehe auch. Die ersten Schritte zur Vereinheitlichung des Landschaftsraumes erfolgten noch im Erzählbild. Das vermutlich älteste Beispiel, die Meditation der Königin Vaidehi in Dunhuang siehe auch, zeigt zum ersten Mal eine zusammenhängende Landschaftsstruktur mit Raumgefühl und Weite.

Die dienende Funktion der Landschaft wandelte sich mit einem geänderten Weltbild. Einer der Gründe dafür war der Rückgang des buddhistischen Einflusses seit Ende der Tang-Zeit. Er wirkte sich erheblich auf die Kunst aus: die Übermacht der Figur im Kultbild und in den kanonischen Heilsgeschichten wurde zurückgedrängt. Mit einem neuen Naturbegriff wurde die Landschaft selbst Ausdrucksträger eines religiösen Weltgefühls. Das Landschaftsbild wurde autonom. In den frühesten uns bekannten Landschaftsbildern, die Anfang des 10. Jahrhunderts geschaffen wurden, tritt uns die Umkehrung der Bedeutung von Mensch und Natur entgegen. Auf diesen Bildern muss man Menschen geradezu suchen. Von ameisenhafter Winzigkeit, sind sie Felsmassiven gegenübergestellt, die übermächtig den Bildraum beherrschen. Hier wird keine Geschichte mehr erzählt, sondern das Thema ist das reine Sein der Natur. In ihr lebt der Mensch, eine Kreatur unter anderen, als Teil der Schöpfung. Staunen und Bewunderung erweckt die Größe dieser Natur, erhaben und unberührt ist sie vom Treiben der Menschen.

Aus diesem Weltgetriebe sich zurückzuziehen, war zwar schon früh das Bestreben des nach Weisheit und Erkenntnis Suchenden gewesen, besonders ausgeprägt im Eremitentum des Daoismus und später des Buddhismus. Dies galt in besonderem Maße in unruhigen Zeiten, so auch jetzt im 10. Jahrhundert. Nun aber nahm die Wunschvorstellung eines naturverbundenen Lebens eine besondere Färbung an. Denn den meisten Gelehrten und Literaten war ein solches Dasein verwehrt. Als gute Konfuzianer durch vielerlei Pflichten und Bindungen an Gesellschaft, Familie und Amt, an ein Leben am Hofe oder in städtischer Enge gefesselt, konnten sie dieser Lebensweise nur zeitweise entkommen.

„Da ihm der Zugang zur wirklichen Landschaft verschlossen ist, erfreut sich der, welcher sich an Wald und Fluss begeistert, der Dunst und Nebelschleier liebt, (an diesen Dingen) nur in seiner Vorstellung.“ (Guo Xi. 11. Jh.)

In dem Naturgefühl der gebildeten Schichten, wie es gerade in der Landschaftskunst zum Ausdruck kam, sprach sich eine Sehnsuchtshaltung aus, die oft als „romantisch“ bezeichnet wurde. Fasst man den Begriff ohne sentimental-schwärmerischen Beigeschmack auf, so mag er zutreffen. Es manifestiert sich darin das Gefühl eines Mangels, das Verlangen nach einem Verlorenen, das wiederzugewinnen sei, der Wunsch nach einer mystischen All-Einheit. Bei den Großmeistern, die am Anfang der Landschaftsmalerei stehen, wird diese Sehnsuchtshaltung im Bauen einer Bildstruktur in großer Zusammenschau, ja Monumentalität sublimiert, ohne dass diese Grundstimmung verdrängt wird. Erst in späteren Epochen, mit einer zunehmenden Ästhetisierung von Anschauungen und Lebensführung, begann die Bildungsschicht auch die Natur zu ästhetisieren und ihr damit sentimentale Züge zu verleihen.

Das Naturgefühl des 10. Jahrhunderts und der frühen Song-Zeit beruht jedoch nicht allein auf einer unbestimmten Empfindungslage. Es wurde gedanklich durchdrungen und in der Kunst theoretisch fundiert. Nach übereinstimmender Auffassung der verschiedenen Naturphilosophien wirkte ein kosmisches Ordnungsprinzip in der Natur. Im Neokonfuzianismus umschrieb man es mit dem Begriff „li“ und stellte ihm den materiellen Aspekt einer allesbelebenden, formenden Energie gegenüber, welche die Dinge durchdringt, den Lebensatem „qi“ siehe auch siehe auch.

In seinem pulsierenden Wechsel von Bewegung und Ruhe bringt es die polaren Urkräfte yin und yang hervor. Deren Zusammenwirken schöpft die Elemente, das Universum, die Welt, die Natur. Im Daoismus ist „qi“ der kosmische Geist, die eigentliche Lebensenergie.

So vielfältig seine philosophischen Ausdeutungen auch sein mochten, in der Malerei spielte der Begriff stets eine überragende Rolle. Ohne qi fehlte jedem Bild Geist und Leben.

Dass der Mensch sich unter ein wie immer geartetes universelles Gesetz zu stellen hatte, darin stimmten Konfuzianismus und Daoismus überein. Die ethischen Schlussfolgerungen waren verschieden. Der Konfuzianismus bestand weiterhin auf seinen die menschliche Gesellschaftsordnung betreffenden Werten, wie Tugend, Rechtlichkeit, Güte, Kindesliebe, Gehorsam, Pflichterfüllung u. a. m. Und er betonte weiterhin die strenge Hierarchie des Staatswesens. Der Daoismus lehnte diese Forderungen ab, denn sie zwangen dem allgemeinen Gesetz ein ihm fremdes Schema auf und verhinderten dadurch die natürliche Entfaltung der Dinge und des Menschen. Brachte sich der Mensch dagegen in Einklang mit der Naturordnung, indem er das kosmische Gesetz, das dao, walten ließ, ohne darauf einzuwirken und dadurch seinen Lauf zu stören, so fügten sich die Dinge gemäß ihrer Natur von selbst. Es ist dies die Grundhaltung des Daoismus, das Nicht-Handeln (wu wei), wodurch alles bewirkt wird.

Beide Grundanschauungen finden ihren Ausdruck in der Landschaftskunst und den Erörterungen über sie.

Zu den ältesten kosmologischen Vorstellungen gehörte die des Weltberges als Achse des Universums, der in den vier Himmelsrichtungen umgeben ist von vier heiligen Bergen. Dies war zugleich die Verkörperung des Reiches der Mitte.

Der im Landschaftsbild dargestellte Naturausschnitt besitzt gewöhnlich einen dominierenden Berg, der über mehrere kleinere emporragt. In einem berühmten Essay des Malers Guo Xi siehe auch über die Landschaft, einem der grundlegenden Texte der chinesischen Kunsttheorie, wird der Hauptberg „Herr aller niedrigeren Berge“ benannt. Er wird verglichen mit „einem Kaiser, majestätisch thronend zwischen den versammelten Fürsten …“. „Die Wasserläufe sind die Adern des Berges …“. Damit sind die tragenden Elemente des chinesischen Landschaftsbildes angesprochen: Berg und Wasser, shan shui, was Landschaft bedeutet. Die in die Wolken ragenden Gebirge gehören dem Himmel, der Wärme, dem Licht an, also dem männlichen Prinzip: yang. Wasserfälle und Bergströme streben dem Dunkel, dem kühlen Schoß der Erde zu, der sie verbunden sind. Sie verkörpern das Weibliche: yin.

Diese fundamentalen Anschauungen fanden jedoch nicht nur ihren Niederschlag in Theorie und Praxis der Landschaftsmalerei, sondern ganz konkrete Nutzanwendung in der Geomantik, der alten Lehre von Wind und Wasser: feng shui. Sie war unverzichtbar bei jeder Art Bautätigkeit, von der Stadtplanung bis zur kleinsten Hütte, da sie die günstigen und die unheilbringenden Kräfte eines Ortes bestimmen konnte. Eng verknüpft mit der Ideenwelt der Naturphilosophie, verband sie deren Symbolbegriffe mit ihren Naturbeobachtungen zu einem spekulativen System, das die Wirkungsweise der kosmischen und der Naturkräfte innerhalb einer Landschaft beschrieb und sich ihnen anzupassen suchte. Ihre kosmologischen Auffassungen siehe auch und ihre Symbolsprache finden sich unverändert in den Theorien zur Landschaftsmalerei, ja die Maler befassten sich selbst mit der Geomantik, wie einer der ersten Landschaftsmaler der Tang-Zeit, Wang Wei.

Das qi sammelt sich in den Bergen und fließt zu Tal, weshalb Ebenen und Täler am fruchtbarsten sind. Sein unsichtbares Strömen erkennt man am Lauf der Gewässer, weshalb sie als Adern und Blutgefäße der Berge angesehen werden. Wasserfälle, Wildbäche und Flüsse sind also geradezu Verkörperungen des qi. In Analogie mit dem menschlichen Leib wird eine Landschaft als zusammenhängender Organismus aufgefasst: Gräser und Bäume als Haare des Berges, die Felsen als seine Knochen. Er besitzt Haupt, Schultern, Schenkel und Füße. Wälder bedecken den Bergleib wie ein Gewand. Nebel und Wolken geben ihm Stimmung und Ausdruck. Aber auch die anderen Glieder dieses „Lebewesens“ Landschaft besitzen einen ihnen eigenen Charakter: die Kiefer siehe auch siehe auch betrachtet Guo Xi als „Clan-Älteste, weil sie hervorragt wie ein Vornehmer in der Menge“. Und auch den Felsen, den „Knochen von Himmel und Erde“ wurde eine eigene Wesenhaftigkeit zuerkannt. So besuchte der Kritiker und Landschaftsmaler Mi Fei (1051-1107) siehe auch täglich einen Felsen und verneigte sich vor ihm als seinem „älteren Bruder“, mochte er damit auch nur seiner Verachtung für die Menschen Ausdruck geben. Die Betonung der hierarchischen Gliederung eines Landschaftsorganismus erscheint hier als Reflex der konfuzianischen Gesellschaftsordnung. Sogar in der Methode des Bildaufbaus drückt sich dieses hierarchische Denken aus. Wenn man nach Guo Xi zuerst Himmel und Erde in Beziehung setzen soll, dann gewiss nicht allein aus Kompositionsgründen, sondern weil sie die ewig schöpfenden Urkräfte yang und yin manifestieren. Nun soll man als erstes den Hauptberg anlegen, dann die Nebenberge, vor Bäumen und Steinen die große Kiefer, danach Klüfte, kleine Pflanzen etc.

In Guo Xi’s theoretischen Betrachtungen und auch in der späteren Kunstkritik spielen Nebel und Wolken eine bedeutende Rolle. Sie sind nicht nur ein wichtiges Mittel für den Stimmungsgehalt der Tages- und Jahreszeiten, sondern auch für die räumliche Bildgliederung. Mit ihrer Hilfe erzielt man den Eindruck von Höhe und Entfernung der Berge und eine Differenzierung der verschiedenen Tiefenschichten. Sie entwickeln sich stets parallel zum Bildgrund, ohne ihn zu „durchlöchern“. Technisch erreicht man die Wirkung von Wolkenbänken und Dunstschleiern durch die unbemalte Leerfläche. Sie kann auch Himmel, Wasserflächen, Kaskaden u. a. m. suggerieren und nimmt unter Umständen mehr Platz in einer Komposition ein, als das konkret Dargestellte. Ganz im Gegensatz zur europäischen Malerei, besitzt die Leerfläche als Kompositionselement das gleiche Gewicht wie die sichtbaren Gegenstände, ja sie hat selbst gegenständliche Bedeutung. Darüber hinaus vermag sie Stimmung und Atmosphäre auszudrücken und damit das Wirken des qi. Im Abendland wurde die Leerfläche als Ausdrucksmittel erst in neuerer Zeit in der Kunst für die Grafik entdeckt. Sie ist entscheidend für den Bildrhythmus, ganz wie die Intervalle in der Musik.

Im chinesischen Kunstverständnis hat die Leerfläche jedoch noch weiterreichende Bedeutung, als Teil eines Gegensatzpaares nämlich. Sie steht in einem dialektischen Verhältnis zur anschaubar gemalten Objektwelt. Sie weist hin auf die Beziehung des Unsichtbaren zum Sichtbaren, des Leeren zum Körperhaften, des Geistes zur Materie. Dem Geomanten wie dem Kunstkenner sind Landschaft wie Landschaftsbild durchwirkt von solchen kontrastierenden Elementen, wie etwa Einschnitt und Erhebung (Bachbett und Hügel), Volumen und Negativform (Berg und Tal), Hell und Dunkel u. a. m. Diese Polarität entspringt ganz dem chinesischen Denken in Antinomien, deren Zusammenklang erst zu Harmonie und Einheit führt. Sie sind letzten Endes alle Manifestationen von yin und yang.

Von den Überlegungen Guo Xi’s über die Landschaft gehören die über Nähe und Ferne zu den aufschlussreichsten: „Was Berge angeht, so beachte man drei Entfernungen (san yuan). Der Blick vom Fuß eines Berges zum Gipfel wird Höhenabstand genannt (die Entfernung zur Höhe). Der Blick von der Vorderseite eines Berges nach hinten Entfernung in die Tiefe. Der Blick aus der Nähe eines Berges zu einem weit entfernten horizontaler Abstand (Entfernung in der Ebene).“

Und er gibt auch die Mittel an, wie die drei Entfernungen darzustellen sind: „Die Höhe kühn entschlossen, (d. h. mit entschiedener, kraftvoller Zeichnung). Die Tiefe Schicht hinter Schicht. Der ebene Abstand durch verschwimmende, nebelige Linien, die schrittweise verschwinden.“

Vergegenwärtigt man sich, wo in diesen drei Entfernungen jeweils der Horizont liegen müsste, so ergibt sich für den Blick in die Höhe ein tiefer Horizont, für den Blick in die Tiefe ein hoher Horizont, für den horizontalen Blick ein mittlerer Horizont. Das heißt in dieser für unsere Sehgewohnheit merkwürdigen Beschreibung von Fernen ist von verschiedenen Standpunkten und Blickachsen des Betrachters die Rede und nicht von Entfernung im Raum, wie wir sie verstehen. Keine dieser drei Entfernungen lässt die Darstellung eines Tiefenraumes zu. Die Fernwirkung wird jeweils verstellt durch einen Hauptberg oder durch hintereinander gestaffelte flache Raumzonen, welche die Bildebene optisch niemals nach der Tiefe hin öffnen. Da es sich also um verschiedene Standorte und Blickrichtungen handelt, können diese „Entfernungen“ beliebig vermehrt werden. Das haben spätere Theoretiker auch getan.

Allerdings wurde seltsamerweise die Auffassung vertreten, dass ein Bild jeweils nur in einer „Entfernung“ konzipiert werden könne. Gerade aber dies ist in der chinesischen Landschaftskunst gelungen: die Vereinigung verschiedener Landschaftsaspekte in einem Bildraum. Und dies war auch die Forderung an die Künstler zur Song-Zeit. So monierte der Song-Kritiker Shen Gua (1030-1093) an dem Landschaftsmaler Li Cheng (ca. 919-967), siehe auch, dass er „Dachtraufen von unten“ male, d. h. nur von einem Standpunkt aus, anstatt vom Gesichtswinkel des Ganzen aus die Einzelheiten zu erfassen. Auf diese Weise könne man jeweils nur einen Gebirgszug zugleich sehen. Und Guo Xi sagt: „Von welcher Seite man auch einen Berg betrachtet, ist sein Anblick verschieden … Ein einziger Berg kann die Umrisse und Ansichten von zehn oder von hundert Bergen in sich vereinen. Sie müssen alle vollständig erfasst werden.“ Dieses gleichzeitige Erfassen unterschiedlicher Aspekte einer Landschaft ist nicht nur gültig für die Querrolle, bei welcher dies naturgemäß durch ihre abschnittweise Betrachtung einfacher zu erreichen ist, sondern auch für die Hängerolle, die mit einem Blick zu überschauen ist.

Guo Xi fährt fort: „Die Betrachtung solcher Bilder erweckt übereinstimmende Empfindungen. Es ist, als sei man wirklich in den Bergen, und das ist die Absicht hinter der Darstellung einer solchen Szenerie … Man glaubt, umherzuwandern … in Betrachtung versunken anzuhalten … bei dem Einsiedler zu wohnen, der in den Bergen lebt.“ siehe auch

Der Mensch wird also nicht als außenstehender, von der Natur, bzw. der Natur im Bild abgetrennter Beobachter begriffen, sondern als Teilhabender, ja als Teil der Natur wie des Bildes.

Wie die Maler die skizzierten Grundvorstellungen zur Anschauung brachten, zeigt sich im allgemeinen Aufbau, im Raumgefüge und im Inhalt einer Ideallandschaft. Vor einem solchen Bild vermag der Beschauer keinen festen Standpunkt einzunehmen wie vor einem europäischen, auf welchem sein Blickwinkel genau definiert ist. Der betrachtende Blick beginnt seine Wanderung am unteren Bildrand, und zwar nach chinesischer Sehgewohnheit meist von der rechten Bildzone aus. Dies entspricht dem Verlauf der chinesischen Schrift und demzufolge auch der Querrolle siehe auch. Dieser Wahrnehmungsweise unterliegt auch die Hängerolle.

Nun wird der Blick - etwa über eine Brücke - zunächst nach links oben in das Bild hineingeführt. Obwohl aber der Betrachter nun in die Landschaft „eingetreten“ ist, schaut er dennoch scheinbar aus der Ferne oder von größerer Höhe auf das Panorama. Zugleich aber sieht er sich auf die gleiche Ebene versetzt mit den Gegenständen des „Vordergrunds“: die weit entfernten Bäume zu seinen Füßen, auf deren Kronen er doch blicken müsste, sind unverkürzt in voller Größe dargestellt. Ein Fluss, dessen Fläche sich in ganzer Breite darbieten müsste, fließt so flach vor ihm dahin, als stünde er an seinem Ufer. Folgt er nun dessen Lauf oder dem Weg durch eine Schlucht, so wird er auf Spuren menschlichen Lebens stoßen: ein kleiner Steg, ein Boot, einige Hütten, versteckt zwischen Felsen und Bäumen. Stets schaut er auf die Dächer. Und obwohl die Behausungen in noch größerer Entfernung liegen, wird er in ihre Nähe versetzt: er kann in die Hütten hineinsehen und teilhaben am Leben der Menschen. Und nun entdeckt er einen Reiter, der sich dem Dorfe nähert, einen einsamen Wanderer oder heimkehrende Bauern. Aber er möchte weiterwandern, doch der Weg ist versperrt. Da lockt ein schmaler Pfad steil hinauf durch schwindelnde Klüfte, oft verdeckt von mächtigen Felsen oder stolz aufragenden Kiefern, vorbei an stürzenden Wasserfällen und immer spärlicheren Bäumen ins Weglose. Nun türmt sich Fels auf Fels himmelwärts. Dahinter wachsen Bergriesen in nie erreichbare Höhen empor, beherrscht vom Hauptgipfel. Vorbei an ihnen reicht der Blick in ferne Täler, zu immer neuen Bergketten, welche die Sicht begrenzen.

Doch seltsam: so hoch die gewaltigen Zinnen den Wandernden überragen, er sieht sich dennoch auf gleicher Höhe mit ihnen. Felsstruktur und Pflanzenwuchs zeigen keine Verkürzungen, ja selbst Gebäude nicht, auch wenn sie hoch oben liegen.

So entfaltet der chinesische Landschaftsmaler seine Visionen in verschiedenen Blickachsen, sodass alles, was er darstellen will, am charakteristischsten erfasst und klar ablesbar wird. Den organischen Zusammenhang der so entstehenden innerbildlichen Räume stellt der Rhythmus und das Gefüge der zeichnerischen Linie her, die immer ornamental, d. h. in diesem Fall auf die Bildfläche bezogen bleibt. Durch das wechselnde Spiel von Höhe und Tiefe, Nähe und Ferne, wird der Betrachter in das Bild „hineingezogen“. Dies leistet allein die Bildstruktur, keinesfalls der sogenannte „Realismus“ des Dargestellten, wie oft behauptet wurde. Dem Schauenden erschließt sich das Bild erst, wenn er es sozusagen von innen betrachtet, es durchstreift, die Winzigkeit des Menschen annimmt vor der Größe der Natur.

Die für das westliche Bildverständnis erstaunliche „Manipulation“ des Betrachters entspringt jedoch nicht einer raffiniert kalkulierten Inszenierung, sondern der Abwesenheit perspektivischen Denkens. Dies ist kein Mangel, sondern eine andere Weltsicht.

Man könnte Raum im chinesischen Bild und ganz besonders im Landschaftsbild als geistigen Raum bezeichnen, als „espace spirituel“ im Sinne von Matisse. Denn dieser Raum ist nur vermittels geistiger Bewegung fassbar. Er ist nicht mathematisch oder geometrisch messbar, wie das bei jedem klassischen europäischen Landschaftsbild möglich ist. Insofern ist der Raum im chinesischen Landschaftsbild „unlogisch“. Ja in der chinesischen Kunsttheorie existiert Raum als absolute Größe überhaupt nicht. Es gibt auch kein Wort dafür. Raum wird als Gegensatzpaar aufgefasst: nah - fern (jin yuan). Und tatsächlich trifft dieser Begriff weit genauer das bildnerische Geschehen im chinesischen Landschaftsbild. Es handelt sich um die Beziehungen verschiedener Bildzonen untereinander, die näher oder ferner gedacht sind: die alten Raumparzellen siehe auch, nun aber zusammengewachsen zu einem einheitlichen Bildorganismus. Das heißt analog zur Auffassung der Landschaft als Körper wird auch ihr Bild so gestaltet: als leibhaftiges Wesen. Der Raum, den ein solcher Landschaftskörper einnimmt, ist begrenzt wie bei jeder körperhaften Gestalt. „Raum“ drückt sich darin in einem organischen Vorgang aus: in einem Vor- und Zurückwölben des Landschaftskörpers, vergleichbar dem Atmen. Dieses Atmen erfasst jedoch nicht nur die sichtbar gemalten Elemente, die Volumina von Berg, Fels oder Baum, bzw. die Konkavformen von Höhlung, Flussbett oder Tal, sondern auch die Leerflächen der Komposition, also den gesamten „Bildleib“. Es liegt in der Konsequenz dieser Konzeption, dass die Geschlossenheit eines solchen gestalthaften Landschaftswesens keine Öffnung in die Tiefe kennt, wohl aber organisches Wachstum, wie wir noch sehen werden.

Dennoch ist es kein Widerspruch, wenn man zu Recht die Tiefe, ja geradezu unendliche Weite des chinesischen Landschaftsbildes bewundert. Bildnerisch wird dies erreicht durch ferne Bergzüge, die im Bildgrund verschwimmen, oder Weite wird allein durch Leere dargestellt. Was der Betrachter als fernen Dunst imaginiert, ist die unbemalte Bildfläche. Auf diese Weise wird das Auge zurückgeführt zum Bildkörper. Es wird also keine Illusion geschaffen, keine Augentäuschung eines Tiefenraumes, wie sie im Extremfall das europäische „Trompe l’oeil“ hervorruft, sondern eine geistige Vorstellung von unermesslicher Weite, ja von Unendlichkeit wird erweckt. Eine Parallele dazu bietet die Meditation: die transzendentale Erfahrung geschieht im Inneren des Menschen. Der Geist ist „außer sich“ und bleibt dennoch dem Leib verhaftet. Oder um ein anderes Bild zu gebrauchen: Raum im chinesischen Landschaftsbild erscheint als eine Art Fluidum, welches die Formen umfließt, worin die Dinge eingebettet sind, und woraus sie ihre Lebenskraft beziehen. Dunstschleier und Nebelbänke sind die Ausdrucksmittel dafür.

Diese Raumkonzeption erweist sich auch an der verfremdenden Wirkung von Siegeln, Gedichtaufschriften und Kolophonen. Dem Bild wird jeder Illusionscharakter genommen, wenn beispielsweise eine Leerfläche, die Himmel darstellt, durch die Aufschrift als Malgrund identifiziert wird. Und dennoch fügen sich die Schriftzeichen zwanglos in die Bildordnung. Unvorstellbar bei einem Turner oder Caspar David Friedrich!

Die aperspektivische Sichtweise zeigt sich gerade dort, wo man eine Räumlichkeit vermittelnde Perspektive erwarten müsste, in der Darstellung von Architektur. In seltenen Fällen, wie bei Li Cheng siehe auch, sind Gebäude im Aufriss gegeben, es wird also nur eine Front gezeigt. Gewöhnlich sind Bauwerke von schräg oben zu sehen mit Aufsicht aufs Dach und mit Blick ins Innere. Dazu wird die Parallelperspektive angewendet, wie bereits zur Han-Zeit siehe auch. Es handelt sich dabei um parallel verlaufende Fluchtlinien, die sich nicht, wie in der europäischen Zentralperspektive, in einem am Horizont gedachten Fluchtpunkt treffen, also auch keinen perspektivischen Raum schaffen. Verkürzungen und unerwünschte Überschneidungen werden vermieden, damit bleibt der Überblick über das gesamte Bildgeschehen gewahrt. Eine Geschichte kann mit all ihren Vorgängen auf einem Bild erzählt werden. Das ist wichtig, insbesondere für die Querrolle, wobei der Betrachter dem Ablauf der Ereignisse entlanggeführt wird. Wo er sich auch befindet, auf die Gebäude, nahe oder ferne, hat er stets die gleiche Sicht. Er kann zwar verharren, will er aber das Gesamte erfassen, kann er keinen beliebigen Standort wählen. Das Auge, der „Wanderer“, ist in der Hängerolle in der gleichen Lage: er wird durch den Bildablauf geführt. Nur die Technik der Parallelperspektive ermöglicht es ihm jedoch, von jeder der sich verschiebenden Blickachsen eine klare Übersicht zu behalten auf Hütten, Dörfer oder Tempelanlagen. In welcher Raumzone des Landschaftskörpers er sich aufhält, er hat stets den gleichen Blickwinkel auf die Gebäude. Ihre Stellung und Anordnung sind nicht auf ihn bezogen, sondern auf eine den Menschen übergreifende, umfassende Ordnung, die sich im Bildorganismus ausspricht.

Seit der Renaissance bis in die Moderne war die europäische Kunst bestimmt vom perspektivischen Denken, d. h. von einem Weltbegriff, in dessen Ordnung der Mensch im Mittelpunkt steht. In der Tat handelt es sich bei der Zentralperspektive zunächst um ein Denkmodell. Erst in zweiter Linie ist sie eine künstlerische Technik. Sie ist bestimmt von der Idee, dass sich ein Bildraum allein auf einen einzigen Standpunkt zu beziehen habe, eben den des Betrachters, der als souveränes Individuum seine Position unabhängig und außerhalb des Bildes einnimmt. In gleicher Weise steht er der Natur gegenüber. Es ist ein immer noch weit verbreiteter westlicher Irrtum, die Zentralperspektive als Maßstab der ostasiatischen Raumdarstellung anzulegen. Was im europäischen Sinne ein „Mangel“ der ostasiatischen Kunst bedeutet, nämlich das Fehlen einer echten Konzeption des Tiefenraums, d. h. ihn „richtig“ darzustellen, prädestinierte sie geradezu für eine großflächige Malerei. Die europäische Architektur konnte solche Aufgaben der Wandgestaltung in reichem Maße bieten. Nicht so sehr der ostasiatische Pfeilerbau. Dennoch konnte sich die Fähigkeit der Künstler zur Bewältigung großer Flächen am Stellschirm erweisen, wie auch an den langgezogenen Wandflächen kaiserlicher und adeliger Grabanlagen. Die Abwicklung ihrer Kompositionen entspricht der Querrolle. Es war die aperspektivische Raumkonzeption, welche von vornherein die Möglichkeit eines homogenen, der Fläche und den architektonischen Gegebenheiten entsprechenden Bildablaufs bot.

Trotz der überwältigenden Meisterwerke der Renaissance-Fresken, so konstruktiv und architekturbezogen sie waren, trotz der grandiosen Exzesse eines illusionistischen Tiefenraumes im Barock: seit Erfindung der Zentralperspektive war es das Kardinalproblem der europäischen Monumentalmalerei, eine der Wandfläche adäquate Bildstruktur zurückzugewinnen. Erst der neueren Malerei gelang es, das Diktat der flächendurchbrechenden Perspektive zu überwinden. Ein Problem, das für die ostasiatische Kunst nie bestanden hat.

Dem Subjekt, dem Betrachter, stand in der neuzeitlichen Kunst Europas der Bildraum als Objekt gegenüber. Dadurch gewann er die objektivierende Qualität eines physikalischen Raums. In ihm existierten die Gegenstände nicht nur in abmessbaren Entfernungen voneinander, sondern nahmen auch physikalische Eigenschaften an wie Volumen, Gewicht, Härte usw. Daraus ergibt sich ihr Materiecharakter. Er drückt sich aus in Gestaltstruktur und Oberfläche. Die materielle Beschaffenheit der Gegenstände und deren Differenzierung wurde zwangsläufig zur künstlerischen Aufgabe. So konnte sich die hohe Kunst der Wiedergabe des Stofflichen entwickeln. Damit entstanden realistische Stilformen in all ihren Spielarten. Auch der chinesischen Landschaftskunst, insbesondere den monumentalen Frühmeistern, wird immer wieder „Realismus“ bescheinigt. Dieses Missverständnis beruht offenbar auf der oft wiederholten Gleichsetzung von Landschaft und Landschaftsbild in den theoretischen Schriften. Wie wir gesehen haben, ist damit jedoch keine realistische Bildvorstellung verbunden. Der Wirklichkeitsbegriff gerade der bedeutenden Maler und Kritiker bezieht sich nicht auf die wirkliche Erscheinung der Dinge, was der Begriff „Realismus“ ja impliziert, sondern auf die Fähigkeit, das Geistige, das qi, zu ergreifen und ins Bild zu übertragen, im Nachvollzug des lebendigen Wirkens der Natur.

Wie wenig entscheidend ihr getreues Abbilden war, geht aus den kunstkritischen Texten immer wieder hervor. So bewundert der Literat und Militärbeamte Shen Gua (1030-1093) den Landschaftsmaler Wang Wei. Dieser habe Bananen im Schnee gemalt oder Blumen auf einem Bild, die zu verschiedenen Jahreszeiten blühen: ein schwerer Verstoß gegen die Wirklichkeit. Jedoch der Kritiker wertet solche Visionen höher, da Wang Wei die Idee (der Natur) in hohem Grade begriffen habe. Gerade weil Shen Gua den Literatenmalern nahestand, also den freieren Geistern, trifft er den Kern des Problems: nicht Wirklichkeit, sondern Wahrheit in einem höheren Sinne als vornehmste Aufgabe der Kunst. Er stimmt darin beispielsweise auch mit Jing Hao überein, der zwar Gestalttreue und Übereinstimmung von Pflanzen und Jahreszeiten gefordert hatte, jedoch die Wahrheit hinter den Dingen über äußere Ähnlichkeit stellte siehe auch. Kein chinesisches Landschaftsbild ist die topografisch genaue Wiedergabe einer Gegend, denn „was würde dies von einer Landkarte unterscheiden?“ (Guo Xi).

Kein chinesisches Landschaftsbild ist vor der Natur entstanden siehe auch. Es ist das Produkt einer inneren Vision, die der Künstler von dieser Landschaft in sich verdichtet hat. Er hat sie gewonnen, indem er in ihr lebte und umherwanderte. Er mag ein Gebiet von „1.000 li“ Ausdehnung in einem Bilde darstellen, dies zu durchwandern wir Monate benötigen würden. Man kann der Meinung sein, eine solche Ideallandschaft könne trotzdem realistisch gemalt sein, indem man sie aus realistischen Details zusammensetzt. Allein schon die Anschauung lehrt das Gegenteil. Auch die einzelnen Gegenstände werden niemals in ihrer materiellen Beschaffenheit geschildert. Selbst wenn unterschieden wird zwischen der Oberfläche eines Baumes und eines Felsens, so bleiben sie dennoch stets malerische oder zeichnerische Struktur, kalligraphische Zeichen, „cun“. Liniengefüge und Pinselduktus bestimmen Struktur und Form dieser Gegenstände, niemals ihr Stoffcharakter. Es handelt sich nicht schon deshalb um Realismus weil die Dinge ihrer Gestalt gemäß dargestellt sind. Dem aperspektivischen Raum entspricht eine anaturalistische Malweise, die allein der Bildstruktur verpflichtet ist. Das trifft sogar für den „naturalistischen“ Akademiestil zu: auch seinen Gegenständen fehlt jener Aspekt von Materie, der ihnen Stofflichkeit verleiht, sowie der abmessbare physikalische Raum. Gerade dies verleiht seinen Pflanzen und Tieren Symbolcharakter siehe auch.

Und eine dritte Komponente fehlt der chinesischen Malerei zu einer realistischen Darstellungsweise: das Licht als materielle Erscheinung. Es verschafft den Körpern Volumen, Stofflichkeit, Oberflächenreiz, Färbung. Es erzeugt Schatten und besitzt eine oder mehrere bestimmbare Quellen. Und selbst, wenn diffuses Licht herrscht, modelliert es die Lokalfarbe der Körper. Das chinesische Landschaftsbild kennt keine an die Gegenstände gebundene Lokalfarbe, noch eine Lichtquelle, welche Licht- und Schattenzonen bestimmt oder beleuchtete Körper aus dem Dunkel hervortreten lässt. Und es kennt keinen Schlagschatten, welcher die Solidität der Körper anzeigt und ihre Stellung im Raum definiert. Wenn man hier überhaupt von Licht sprechen kann, dann höchstens im Sinne eines schwebenden, nicht fassbaren atmosphärischen Leuchtens ohne erkennbare physikalische Ursache, das wie der „Raum“ die Bildmotive umfließt. Hier geht ein bewegtes, webendes Spiel vor sich von Hell und Dunkel, das je nach Notwendigkeit des Ausdrucks bestimmte Partien hervorhebt oder zurücktreten lässt. Es ist dieses Wechselspiel des Sich-Durchdringens und Auseinandertretens, das, ohne unbedingt an die Gegenstände gebunden zu sein, den Bildrhythmus formt - eine der Manifestationen von yin und yang.

Die chinesische Landschaftskunst besitzt dagegen eine Dimension, die in der europäischen Kunst zwar vorhanden ist, jedoch nur in Ansätzen und weniger ausgeprägt. Durchwandern wir eine chinesische Ideallandschaft, so bewegen wir uns durch verschiedene Landschaftsräume mit wechselnden Blickwinkeln. Wir folgen dem Bildrhythmus, wie er das Auge führt. Wir verharren an einem Aussichtspunkt, folgen dem vorgezeichneten Pfad, springen über Abgründe oder klettern an einem Wasserfall empor. Immer werden wir dem organischen Zusammenhang folgen, in den der Künstler die Bildelemente gestellt hat. Wir erleben also Raum als Bewegung in zeitlicher Abfolge. Das bedeutet: in den drei Dimensionen, in welchen uns Welt erst begreiflich wird.

Dieses Raum-Zeit-Kontinuum drückt sich jedoch nicht nur durch die Bewegung innerhalb des Bildraums aus. Wie wir gesehen haben, wird Landschaft in der chinesischen Kunst als körperhafter Organismus aufgefasst siehe auch. Damit verbunden ist die Vorstellung von ihrem stetigen Wachstum. Ein Blick auf ein chinesisches Landschaftsbild bestätigt dies: es scheint, als drängten bildimmanente Kräfte über die Bildgrenzen hinaus. Ebenso die raum-zeitliche Komponente. Eingewoben in den Rhythmus des Landschaftsorganismus, hat sie an dessen Wachstum teil, das außerhalb des Bildraums gleichsam ins Unendliche fortwirkt. Es ist die genaue Entsprechung zur Kompositionsweise des „gebrochenen Astes“ in der Pflanzenmalerei siehe auch, wobei wir unwillkürlich auch die Welt außerhalb des Bildes imaginieren. So erweist sich das Landschaftsbild als Weltausschnitt, der für ein größeres Ganzes steht.

Den großen Meistern der Landschaftskunst ist es gelungen, eine Ehrfurcht einflößende Atmosphäre des Überwirklichen zu schaffen. In solchen Schöpfungen teilt sich eine ins Transzendente gerichtete Sicht mit, eine tiefe Religiosität ohne kultische Bindung. Die visionäre Erfahrung von Ferne und Einsamkeit, in meditativer Kontemplation gewonnen, weist über alles Faktische hinaus und führt zur Offenbarung.