Die Akademie
Die Neigung der chinesischen Herrscher, für Bildung und Gelehrsamkeit einen institutionellen Rahmen zu schaffen, welcher naturgemäß auch der kaiserlichen Kontrolle unterlag, lässt sich bis in die Han-Zeit zurückverfolgen. Kaiser Wudi gründete 136 v. Chr. die erste kaiserliche Akademie, aus welcher die besten Köpfe des Reiches hervorgingen, ausgewählt durch strenge Examina, um als hohe Beamte dem Staat zu dienen.
Es war die höchste Bildungsstätte konfuzianischen Gedankengutes und des Wissens der Zeit. Der höchste Rang, welcher vom Kaiser verliehen wurde, war der des Daizhao, des „Beamten in Aufwartung“ (des Kaisers). Diesen Titel konnten nicht nur Gelehrte erhalten, sondern etwa Astrologen oder Akrobaten und eben - nicht zuletzt - auch Maler. Der Sinn dieser Einrichtung war, die jeweiligen Spezialisten zur Verfügung zu haben, um vor dem Kaiser zu erscheinen, wenn dieser ihrer bedurfte. Der Tang-Kaiser Minghuang (713-756) nahm die Tradition auf und gründete 754 die Hanlin Yuan, die Kaiserliche Akademie der Literatur. Ihr waren ebenfalls Hofmaler in Beamtenrängen angegliedert.
Ähnliche Institutionen gab es während der Fünf Dynastien im Königreich Shu und in Nanking unter den Südlichen Tang.
Die Song-Kaiser folgten diesen Beispielen. Nach Gründung der Hanlin-Akademie in Kaifeng suchte man Talente aus allen Teilen des Reiches in die Hauptstadt zu ziehen. Ob es damals bereits eine Malakademie gab, unabhängig von der Hanlin-Akademie, ist aus der offiziellen Geschichtsschreibung nicht belegt. Dank seinem besonderen Interesse an der Malerei entstand unter dem letzten Kaiser der Nord-Song, Huizong (Reg. 1101-1125), ein Amt, dem eine Gruppe von Hofmalern unterstellt war, und das von den zeitgenössischen Autoren Yuhua Yuan bezeichnet wurde: kaiserliche Malakademie. Sie hatte mehrere Funktionen: Heranbildung von Malern, die im höfischen Stil arbeiteten, die Verwaltung der kaiserlichen Sammlungen, die Ausschmückung der Paläste und die Darstellung wichtiger historischer Ereignisse oder höfischer Begebenheiten. Es gab eine strenge Hierarchie von Rängen für die beamteten Maler, von welchen der Daizhao der oberste war.
Die höchste Auszeichnung für besondere Verdienste war der „Goldene Gürtel“, der in Ausnahmefällen auch Künstlern verliehen wurde, die nicht Mitglieder der Akademie waren.
In Wettbewerben über ein literarisches Thema wurden die Maler regelrecht examiniert. Sie standen unter dem Geschmacksdiktat Huizongs, der persönlich die Aufgaben stellte und die Lösungen beurteilte, bzw. die Prüfungs-Kommission selbst bestellte. Die vom Kaiser am höchsten geschätzten Themenkreise waren Tiere, Pflanzen und Vögel. Entsprechend wirkte die Akademie nebenher sozusagen als naturwissenschaftliches Institut, denn sie erfasste mit ihren Arbeiten in genauer Wiedergabe ein weites Spektrum von Tier- und Pflanzenarten.
Der unmittelbare Einfluss Song Huizongs war stilbildend. Seine Vorgänger waren in Fragen der Kunst gewiss toleranter. Dennoch wirkten ihr Geschmack und ihre persönlichen Vorlieben indirekt auf die Entwicklung der Malerei und zwar über die kaiserlichen Sammlungen. Einmal durch das hohe Prestige, das dem zuteil wurde, dessen Arbeiten darin aufgenommen wurden. Und dann durch die Kopiertätigkeit der Hofmaler, denen die Werke der Sammlung als Vorlagen zur Verfügung standen. Man darf annehmen, dass die beliebtesten Sujets diejenigen waren, welche dem kaiserlichen Geschmack am ehesten entsprachen. Der Katalog der kaiserlichen Gemäldesammlung von 1120 siehe auch nennt von 6.192 Werken 2.786 Blumen- und Vogelbilder.
Unter dem zweiten Song-Kaiser, Taizong, war der Blumen- und Vogelmaler Huang Jucai (ca. 933-993) Vorsteher der kaiserlichen Sammlungen. Er führte den Stil seines Vaters Huang Quan siehe auch weiter und gewann entscheidenden Einfluss auf die höfische Malerei der Nord-Song-Zeit. Seine und seines Vaters Werke waren die am meisten vertretenen in der kaiserlichen Sammlung.
Cui Bo
Der berühmteste und wohl auch bedeutendste Tier- und Pflanzendarsteller des 11. Jahrhunderts war Cui Bo (ca. 1024-1077), welcher die Malweise der Huang-Schule und des Xu Xi zu einem eigenen Stil verschmolz, indem er den Farbaufbau des „knochenlosen“ Stils verband mit einer reduzierten Tuschelinie. Sein Name wurde in China geradezu zum Synonym für Vogel- und Pflanzenbilder, sodass ein Großteil von Werken dieser Art ihm zugeschrieben wurden.
Sein Einfluss auf den Akademiestil Huizongs führte in direkter Linie über seinen Schüler Wu Yuanyu, der später Lehrer des Kaisers war.
Cui Bo führte auch Wandmalereien in buddhistischen Klostertempeln aus, sowie Gemälde im Kaiserpalast. Kaiser Shenzong (Reg. 1068-1085) schätzte ihn so sehr, dass er ihn an die Akademie berufen wollte. Wegen seiner nachlässigen Natur und seiner Unfähigkeit zum praktischen Handeln sah er sich nicht imstande, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Dennoch verlieh der Kaiser ihm die ehrenvolle Stellung ohne die üblichen Amtspflichten.
Einige hervorragende Werke sind erhalten, die als Originale gelten und seine Signatur tragen. Wenn sie sich auch nicht in Pinselführung und zeichnerischem Vortrag gleichen, so zeigen sie doch Verwandtschaft im Bildaufbau und besonders in Sujet und Atmosphäre.
Spatzen im Winter
Eine Querrolle des Palastmuseums in Peking stellt „Spatzen im Winter“ dar. Das lebhafte Geflatter der Vögel auf einem dürren, kahlen Ast, ihre genau beobachteten Bewegungen und Haltungen machen die Rolle zu einer scharfsichtigen tierpsychologischen Studie. Der unbemalte Seidengrund evoziert einen dunstigen, feuchtkalten Wintertag .
Elstern und Hase
Das Nationale Palastmuseum von Taipei, Taiwan, besitzt zwei Hängerollen, die Cui Bo zugeschrieben werden. „Elstern und Hase“, signiert 1061, zeigt einen Hasen, der von zwei Elstern beschimpft wird. Der Hase wendet den Kopf nach dem aufgeregt flatternden Vogelpaar, das scheinbar seinen Nistplatz gefährdet glaubt. Verwunderung sprich aus dem uns zugewandten, weit offenen Auge des Hasen, während er mit erhobener Vorderpfote verharrt: auch hier wieder eine einfühlsame Schilderung der Verhaltensweise frei lebender Tiere. Einige Büschel Riedgras, ein verkrüppeltes Eichbäumchen, an dem noch die letzten dürren Blätter hängen, Dornenzweige und ein paar dünne Bambusstecken, alle windzerzaust und gebogen, vermitteln das Gefühl des Ausgesetztseins der Kreatur in einer unwirtlichen, kargen Dünenlandschaft. Im Gegensatz zu der detailgenauen Darstellung der Sträucher und Tiere ist der sandige Dünenboden mit wenigen breiten Pinselzügen in der rechten unteren Bildecke angedeutet, der Hintergrund bleibt leer .
Bambus und Reiher
Eine ähnliche Stimmung beherrscht das andere Bild . Ein Reiher stakt im seichten Wasser eines winterlichen Seeufers, während der Wind durch den Bambus im Vordergrund fegt. Bis auf die Wellen und einige Schilfblätter deutet sich auch hier im Hintergrund nichts Landschaftliches an. Und dennoch ist der Umraum präsent, erzeugt durch die wenigen Elemente des Vordergrundes. Cui Bo soll seine Zeitgenossen dadurch in Erstaunen gesetzt haben, dass er ohne Vorzeichnung arbeitete und seine Kompositionen unmittelbar mit dem Tuschepinsel festlegte. Bei dieser Vorgehensweise sollte man einen spontanen künstlerischen Vortrag erwarten. Allein es ist weniger der Pinselduktus, der diesen Bildern ihre Besonderheit verleiht, als vielmehr die Dichte ihrer Atmosphäre, in welcher der Überlebenswille der Geschöpfe einer absterbenden Natur trotzt. Sie wird mit konventionellen Mitteln erreicht, mit sorgfältiger Linienzeichnung, zurückhaltend koloriert. Die Bambusstangen und -blätter des Reiherbildes beispielsweise sind bieder und trocken konturiert, ganz im Gegensatz zu dem bravourösen Tuschespiel eines Wen Tong.
Mit gleicher minutiöser Bedachtsamkeit sind die Kompositionen ausbalanciert, sodass verschiedene Bewegungstendenzen im Bildraum ihren Ausgleich finden und zur Ruhe kommen, der Bewegungseindruck aber dennoch nicht verloren geht.
Es waren diese sorgfältigen Kompositionen in Verbindung mit einer genauen Naturbeobachtung, welche Kaiser Huizong beeindruckt haben mögen, und die er dem Akademiestil seiner Zeit aufprägte. Die landschaftliche Komponente in Cui Bos Werken wurde dabei noch weiter reduziert.
Kaiser Huizong
Offenbar selbst ein hochbegabter Maler, war der Geschmack Huizongs (1082-1135) von eklektizistischer Einseitigkeit, was manchen freieren Geist veranlasste, sich vom Hofe fernzuhalten, zumal Künstler und Werke, die dem Kaiser nicht genehm waren, unterdrückt wurden.
So ließ er Bilder des großen Landschaftsmaler Guo Xi siehe auch aus seiner Sammlung entfernen oder gar verkommen, und natürlich lehnte er die Literatenmaler des „Westgartens“ ab. Was ihm von den Wandmalereien in Tempeln und Palästen nicht gefiel, ließ er übertünchen und gab dem Maler neue Anweisungen. In einem Dekret verlangte er von den Malern seiner Akademie, nicht die Vorgänger nachzuahmen - ein durchaus neuartiger Gedanke - sondern die Gegenstände wirklichkeitsgetreu in Farbe und Form wiederzugeben, einfach und mit nobler Linie.
Inwieweit er fähig war, diese Forderungen selbst einzulösen, ist heute umstritten. Von den buchstäblich „tausenden“ von Alben, ganz zu schweigen von zahlreichen Einzelwerken, die ihm von späteren Historiographen zugeschrieben und zudem noch als „göttliche“ Meisterwerke gepriesen wurden, ist heute eine kleine Werkgruppe übriggeblieben, über welche ebenfalls keine Einigkeit besteht. Jedenfalls lassen sich daraus die stilistischen Absichten Huizongs deutlich ablesen.
Eine Anzahl noch erhaltener Albumblätter und Seidenrollen tragen sein Siegel und seine Unterschrift in einer unverkennbaren Kalligraphie, deren schlanke, präziöse Eleganz unter dem Namen „Goldschrift“ berühmt wurde. Einst muss es hunderte solcher Blätter gegeben haben. Hatte der Kaiser nämlich ein Bild gemalt, z. B. auf einem Fächer, suchte jedermann am Hofe es zu kopieren. So entstanden oft etliche hundert Kopien des gleichen Motivs.
Das kaiserliche Siegel auf einer solchen Kopie zu erhalten, war eine hohe Auszeichnung, worum sich Prinzen, Beamte und Maler bemühten.
Ebenso verfuhr Huizong mit den Werken seiner Akademie-Künstler. Fand eine Malerei seine Billigung, so wurde sie von ihm mit Stempel, Signatur und vielleicht sogar mit einem eigenhändig geschriebenen Gedicht abgesegnet.
Gewiss mussten solche Arbeiten nicht nur sein Gefallen finden, sondern sie mussten seinem persönlichen Stil entsprechen. Bei der überlieferten Bereitschaft der Akademiemaler, sich der künstlerischen Autorität des Kaisers zu unterwerfen, da andernfalls die Entlassung die Folge war, musste eine Unzahl thematisch und stilistisch gleichartiger Werke entstehen von unterschiedlichem künstlerischen Rang. Ob es gerade die besten dieser Werke waren, die von der Hand des Kaisers stammten, ist heute nicht mehr zu entscheiden.
Zwei grundsätzliche Gesichtspunkte der ästhetischen Konzeption Huizongs gehen aus einer Reihe Berichte und Anekdoten hervor. In einer Wettbewerbsaufgabe verlangte er die Darstellung eines Fasans, der im Garten umherläuft. Es entstanden Bilder von vollendeter Natürlichkeit, jedoch der Kaiser verwarf sie alle als falsch. Keiner der Maler hatte darauf geachtet, dass der Fasan, wenn er auf einen Fels steigt, als erstes das linke Bein hebt und nicht das rechte, wie es die Maler dargestellt hatten.
Zu dieser Art pedantischer Naturbeobachtung trat die Forderung nach einem Ideengehalt. Eine Aufgabe bestand aus der Gedichtzeile: „Der Geruch zertrampelter Blumen folgt den Hufen des heimkehrenden Pferdes“. Der Gewinner löste das Problem, indem er Schmetterlinge um die Hufe des Pferdes flattern ließ. Der geistreichste Einfall, der brillanteste Gedanke wurde höher bewertet als eine noch so vollkommene Ausführung. Dies belegt, dass auch die oft betonte formale Ähnlichkeit des Akademiestils mehr wollte, als die Nachahmung einer faktischen Realität. Der literarische Inhalt dominierte, und wer ihn am besten anschaulich machte, wurde als fähiger Künstler angesehen. Die Höherbewertung der Literatur zeigte sich in der Rangfolge: im Hofzeremoniell rangierten die Daizhaos der Literaturakademie (Shu Yuan) vor denen der Malakademie (Hua Yuan). Danach erst folgten die Mitglieder der Musikakademie (Qin Yuan).
Der hohe Stellenwert, welcher dem gedanklichen Inhalt zuerkannt wurde, geht auch aus dem Katalog der kaiserlichen Sammlung hervor. Mit Tieren und Pflanzen, so heißt es da, verbinden sich bestimmte Gedanken und Gefühle. Richtig dargestellt in Bildern dienen sie dazu, Gedanken in den Menschen zu erwecken. Solche Bilder erfassen nicht nur die Erscheinung der Geschöpfe, sondern übertragen auch den Geist ihres Wesens. Sie erfassen das Gemüt, als blicke man auf die Dinge selbst. Der Bedeutungsgehalt eines Bildes wurde gleichgesetzt mit dem eines Gedichtes. In diesem Sinne „las“ man ein Gemälde, ja die Motive wurden in erster Linie nach den Inhalten ausgesucht, die sie assoziierten, nicht so sehr ihrer ästhetischen Wirksamkeit wegen.
Diese symbolhaften Aussagen eines Bildes waren konfuzianisches Erbe, worin den Geschöpfen und Pflanzen bestimmte moralische Eigenschaften zugeschrieben wurden, welche wiederum in Verbindung standen etwa mit Stimmungen oder Jahreszeiten.
Der fünffarbige Papagei auf einem Aprikosenzweig
Eines der berühmtesten Beispiele aus dem Kreise Huizongs oder von ihm selbst —¬ und gewiss eines der vollkommensten — ist „Der fünffarbige Papagei auf einem Aprikosenzweig“ (Museum of Fine Arts, Boston). Auf dieser Querrolle sind alle Elemente versammelt, die seinen Akademiestil auszeichnen: akribische Naturbeobachtung, symbolischer und literarischer Bezug, ausgeklügelte Ästhetik .
Die rechte Bildhälfte nimmt eine Beischrift in Prosa ein und ein Gedicht, worin der Kaiser den gelehrigen und liebenswürdigen Vogel aus dem Süden besingt, der im Palastgarten umherfliegt, wie es ihm gefällt. Die Kalligraphie und die nur zum Teil erhaltene Signatur sind in Huizongs „Goldschrift“ verfasst. Auf der linken Hälfte der Rolle, in „knochenloser“ Manier gemalt, ragen vor dem leeren Seidengrund die Äste eines blühenden Aprikosenbaumes vom unteren Rand ins Bild hinein. Die zarten, hellen Blüten weisen auf die Jahreszeit. Die Eigenart ihres Wachstums ist treffend erfasst bis in Astknoten und Knospen. Die blattlosen Zweige überschneiden sich kaum, sodass eine klare Struktur entsteht. Sie ist überzeugend natürlich und zugleich von hoher Eleganz. Der Papagei auf dem Hauptast sitzt in der Mitte der Bildhälfte. Er ist von der Seite wiedergegeben, nach links dem Ende der Rolle zugewandt, als wolle er aus dem Bild hinausfliegen. Dennoch ist er durch die makellose Komposition wie festgebannt. Sein mit jeder Feder wiedergegebenes Gefieder bildet den zentralen Farbakzent des Bildaufbaus, insbesondere das Rot von Brust und Kopf.
Astwerk und Papagei bilden eine farbige Silhouette vor der raumlosen Textur des Seidengrundes. Auf diese Weise wird das Motiv in eine formale Beziehung gesetzt zu den Schriftzeichen und steht nicht nur als Illustration neben dem Text. Ebenso entsprechen Strichstärken und Duktus von Ästen und Zweigen der schlanken, feinnervigen Kalligraphie. Mit der Isolierung des Bildgegenstandes von seiner Umgebung gewinnt er etwas Zeichenhaftes. Nirgends in der Natur wird dieses Motiv in solcher Reinheit und ästhetischen Ausgewogenheit zu finden sein.
Die raffiniert ausbalancierte und zugleich spannungsvolle Komposition ist bei aller Naturtreue im Detail weit entfernt von einem lediglich registrierenden Naturalismus. Die Motive befinden sich in einem unantastbaren, tiefenlosen Bildraum, in welchem Gegenstände, Farben und Formen unverrückbar einander zugeordnet sind wie für alle Ewigkeit.
Wachtel und Narzissen
Dieser ästhetische Purismus, der lieber alles Lebendige aus seinen Bildern verbannte, als von seinen Idealvorstellungen abzuweichen, zeigt sich auch in einem anderen berühmten Werk, das Huizong zugeschrieben wird: „Wachtel und Narzissen“ (Asano Collection, Odawara, Japan) .
Auch dieses Bild zeichnet sich durch zarte Umrisslinien aus, die mit fein abgestuften Farbwerten auslaviert sind. Jede einzelne Feder ist sorgfältig ausgeführt. Bietet zum Beispiel Cui Bo noch einen Weltausschnitt in organischem Zusammenhang, so isoliert Huizong - bzw. seine Schule - das Motiv in diesem Fall, indem es in eine Ecke gerückt wird. Die Narzissenblüten über der Wachtel, einige langgestreckte Blätter, welche in das Bild hineinragen und eine kaum wahrnehmbare Diagonale, die eine Bodenwelle suggeriert, deuten die Umwelt an: der Rest des Blattes ist Leere. Mit äußerster Akribie ist der Vogel aus seiner Umgebung gleichsam herauspräpariert wie unter dem Mikroskop eines Naturwissenschaftlers. Mit dieser Reduktion auf nur ganz wenige Elemente, mit deren meisterhaften Anordnung, und insbesondere mit der Dominanz der Leerfläche gelingt es dem Künstler, gleichzeitig eine Atmosphäre der Irrealität und eine Stimmung der Einsamkeit zu erzeugen, der man sich nicht entziehen kann. Damit ist der gedankliche Inhalt des Bildes getroffen: Die Wachtel steht für ländliche Stille, während die Narzissen in der „stillen“ Jahreszeit blühen: an Neujahr.
Die Verlagerung des Hauptmotivs in eine Bildecke sollte später von Landschaftsmalern der Süd-Song zum Kompositions-Prinzip erhoben werden. Dieses kleine Werk - wie noch andere gleichartige Arbeiten des Akademiestils - wurde so zum Vorläufer einer gänzlich anders gearteten Kunst: des „Eineckstils“ siehe auch.
Han Ruozhuo
Dass der Akademiestil imstande war, eine Kunst von hoher Lebendigkeit hervorzubringen, beweist ein kleines, unscheinbares Fächerbild eines Meisters der Akademie von Kaifeng, von dem nur dieses eine Werk auf uns gekommen ist: Han Ruozhuo (ca. 1100-1150). Er stammte aus der alten Kaiserstadt Luoyang.
Als Hofmaler Huizongs fand er hohe Anerkennung. Seine damals in zahlreichen Sammlungen vertretenen Darstellungen von Vögeln und Pflanzen entsprachen vollständig den Vorstellungen des Kaisers. Ebenso seine Bildniskunst, die ihm den ehrenvollen Auftrag eintrug, den König von Koryo (Korea) für Huizong zu porträtieren.
Sperlinge im reifen Reis
Die „Sperlinge im reifen Reis“ (Museum für Ostasiatische Kunst, Berlin), sind auf ein eigenartiges Format gemalt, das Format des chinesischen Fächers, der dann auf ein Albumblatt montiert wurde siehe auch .
Auf den ersten Blick scheint es ein Rundbild zu sein, jedoch steht es genau zwischen den geometrischen Grundformen von Kreis und Quadrat, ist also sozusagen ein sich zur Rundform hin ausdehnendes Quadrat. Dies ist wichtig speziell für diese Komposition, denn sie besitzt keine Horizontlinie, wie etwa eine Landschaft. Dieses Format ermöglicht eine Orientierung von oben und unten, im Unterschied zum Tondo, mit dem es die Wirkung der Geschlossenheit und des gleichzeitigen Anschwellens gemein hat.
Die senkrechte Widmung rechts „Vom Untertan Han Ruozhuo ehrerbietig gemalt“ ergibt eine weitere Orientierungshilfe, ebenso wie die von links ins Bild hineinragenden Blätter und Reisähren. Denn entweder weisen die lanzettförmigen Blätter in elegant schwingenden Kurven und Knicken sogleich nach unten oder erst nach anfänglichem Ansteigen. Die Reisbüschel aber hängen beschwert von einem Vogelkörper herab und über den unteren Bildrand hinaus.
Diese Eigenart, Pflanzen am Bildrand anzuschneiden oder in den Bildraum hineinwachsen zu lassen, ist schon früh in der Pflanzen- und Blumenmalerei zu beobachten. Die Erfindung wird dem Blumenmaler Zhao Chang aus dem frühen 11. Jahrhundert zugeschrieben.
Es ist die Methode des „gebrochenen Astes“ (zhe zhi). Der Betrachter ergänzt die Pflanze in seiner Vorstellung außerhalb des Bildausschnittes: er lässt sie gleichsam „weiterwachsen“ oder verfolgt unwillkürlich ihren Wuchs zurück bis hin zu dessen Ursprung.
Diese Wahrnehmungsweise ist zwingend. Sie wird in diesem Falle ergänzt durch das scheinbar sich dehnende Bildfeld. Der umgebende größere Lebensraum des Dargestellten wird empfindungsmäßig ins Bild geholt, also gleichsam „mitgesehen“.
Während Halme und Blätter mit dünnen, sicheren Pinsellinien umrissen sind, ist das Hauptmotiv, die beiden Sperlinge, in minutiöser „knochenloser (mei gu) „Technik ausgeführt. Flaum und Federn sind in solch differenzierter Farbnuancierung gegeben, die kaum zu übertreffen ist, und die intensivstes Naturstudium am Objekt voraussetzt. Die äußerste Detailgenauigkeit des Gefieders findet sich auch bei den Huizong zugeschriebenen Vogeldarstellungen. Im Unterschied zu der gewissen Starrheit, welche diesen anhaftet, vermitteln hier die komplizierten Wendungen der kleinen Vogelkörper den Eindruck eines schnellpulsierenden Lebens. Ihre scheinbar frei im Bildraum schwebenden Positionen, die, von verschiedenen Seiten angeschaut, gleich überzeugend wirken, geben dem Auge keinen Halt. Ihr bewegtes Schwingen lässt erwarten, dass sie jeden Augenblick zu einem anderen Halm hüpfen oder plötzlich auffliegen könnten. Die nicht völlig geschlossenen Flügel und die Drehungen der Köpfchen suggerieren plötzliche und zuckende Bewegungen.
Die Vogelkörper bilden zwei kurze, stark gekrümmte, gegenläufige Kurven, wodurch die Komposition in eine rotierende Bewegung versetzt wird, die sich um den Achspunkt des Bildes dreht, der Schnabel des oberen Vogels weist unmittelbar darauf. Der Eindruck dieser Drehbewegung konnte sich jedoch nur mit Hilfe des Rundformats entfalten. Erst aber mit der oben beschriebenen Fixierung von oben und unten durch die dem Quadrat angenäherte Form des Tondos, ordnen sich die Vögel unverrückbar in den Bildaufbau. Dessen rhythmische Gliederung und feinmaschiges Netz von Bezügen zwischen Gegenständlichem und Leerfläche ist mit schlafwandlerischer Sicherheit ausgeführt. Keine noch so durchdachte Konstruktion könnte die gleiche Wirkung erreichen. Neben diesen sich auf der Bildebene abspielenden Vorgängen beinhaltet das kleine Werk auch noch einen räumlichen Aspekt. Der obere Sperling ist von oben gesehen und stößt mit gebogenem Rücken nach vorne (auf den Beschauer zu), der untere zeigt seine Brust und biegt sich pickend um den Halm, an dem er sich festkrallt. Beide bilden so zwei unterschiedliche Krümmungen - und natürlich auch Bewegungen - im Raum, der obere konvex, der untere konkav zur Bildfläche. Ebenso erzeugen die Überschneidungen von Halmen und Blättern eine räumliche Struktur, jedoch ohne Tiefe. Gemessen würde es sich nur um ein paar Zentimeter handeln. Den eigentlichen ‘’Raum’’, die ferner liegende Umwelt, bildet der leere Grund des Fächers. Wie im Falle des ‘’gebrochenen Astes’’ besteht dieser Raum nur in der Vorstellung des Betrachters. Er wird nicht dargestellt.
Die Blumen- und Vogelmalerei, wie sie von der Akademie Huizongs gepflegt wurde, fand ihre Fortsetzung in allen folgenden Stilepochen. Sie erlag jedoch später immer mehr der Gefahr des Abgleitens ins Gefällig-Dekorative, sodass sie zuletzt als geschmäcklerische Keramikdekoration am beliebtesten war und weite Verbreitung fand.
Es war aber auch das kulturelle Klima der Nord-Song-Zeit, in welchem sich der Geist der Literatenmalerei entfalten konnte. Diese beiden extremen Pole künstlerischer Auffassung - höfische Kunst hier, individualistischer Ausdruck dort - steckten fortan das Terrain der chinesischen Malerei ab, worin sich jede Art künstlerischen Temperaments entfalten konnte, der „objektive“ oder der lyrische Naturbetrachter, der malende Philosoph, der Humorist oder der Dramatiker.