Die Landschaftsmaler
Wie in der Blumen- und Vogelmalerei richteten sich die Maler der Akademie auch in der Landschaft nach den Vorbildern der Song-Zeit, in der Hauptsache nach den Süd-Song-Meistern. Nur einige wenige eiferten der Monumentalität des Nord-Song-Stils nach, wohl seiner repräsentativen Wirkung wegen. Die Entwicklung stagnierte. Allzu sehr waren die Hofmaler bemüht, ihren Modellen gerecht zu werden.
Erst Dai Jin und seinen Nachfolgern- der sogenannten Zhe-Schule - gelang es, den Landschaftsstil der Süd-Song wieder mit Leben zu erfüllen durch eine lockere Malweise und eine gewisse Handschriftlichkeit des Pinselduktus. Vielleicht spielte dabei eine Rolle, dass sich in Zhejiang eine lokale Tradition der Süd-Song-Malerei sozusagen im Untergrund erhalten hatte und die Anschauungen der Ma-Xia-Schule lebendig geblieben waren.
Aus dem gleichen Grund - unter anderen - blühte die Malerei der zeitgleichen Wu-Schule auf: die Maler konnten an die noch lebendige Yuan-Tradition unmittelbar anknüpfen und mussten nicht einen vergangenen Stil aus dogmatischen Gründen und unter einem Geschmacksdiktat imitieren wie die Maler der Akademie. Ihre Unabhängigkeit erlaubte es den Literaten der Wu-Schule, sich verschiedenen Vorbildern unter den Yuan-Meistern zu verschreiben, zumal diese ja ebenfalls keinen einheitlichen „Yuan-Stil“ hervorgebracht hatten. Auch Nord-Song und frühere Meister waren darunter, ja sogar die von den Yuan-Malern abgelehnten Süd-Song-Meister. Es gab zahlreiche Querverbindungen und sogar Freundschaften zwischen den beiden konkurrierenden Schulen: Shen Zhou selbst kopierte Bilder Dai Jins.
Den Landschaftsmalern der Ming-Zeit ging es nicht um unmittelbares Erfassen der Natur, sondern um Stilhaltungen. Sie wählten nicht den für sie einzig gültigen Stil, sondern innerhalb der Stile, die ihren Grundüberzeugungen entsprachen, verschiedene Ausdrucksformen. Die führenden Maler entwickelten eine virtuose Beherrschung von Stilen, so, wie sie auch verschiedene Techniken beherrschten. Die Virtuosität des Malvortrags und mehr noch das Desinteresse an Naturnachahmung führten zu einer weiteren Verselbständigung der malerischen Mittel, die schon bei manchen Yuan-Meistern in Ansätzen vorhanden war. So können Striche, Flecke oder Punkte, wie etwa die „Moospunkte“, ohne gegenständliche Bedeutung sein und allein Funktion in der Bildstruktur haben. Die persönliche Handschrift wurde immer wichtiger. Besonders bei den Literatenmalern und den späteren Individualisten wurden die Stilmodelle überlagert von der jeweiligen Eigenart, dem Duktus des Malers. Man kann so von zwei oder gar mehreren Stilschichten sprechen. Das Experimentieren in verschiedenen Stilarten konnte so weit gehen, dass es in manchen Fällen unmöglich ist zu sagen, welches ein „typisches“ Werk eines bestimmten Malers sei.
Trotz des von der Übermacht der Tradition erzwungenen Eklektizismus löste man sich allmählich von den verehrten Vorbildern, die allzu enge Anlehnung hatte sich als wenig schöpferisch erwiesen und wurde als Fessel empfunden. Manche Künstler reagierten heftig mit einer betont subjektiven und emotionalen Malerei gegen das Übergewicht einer Tradition, die scheinbar unüberwindliche Normen gesetzt hatte. Diese Individualisten verwarfen die intellektuelle, rationale Annäherung der Orthodoxen an die alten Meister, welche bis dahin den Haupttrend bestimmt hatte. Aber selbst diese Künstler konnten - und wollten - sich nicht gänzlich von alten Überlieferungen abschneiden, nur folgten sie Traditionen einer intuitiven Malerei.
Gegen Ende der Epoche vernachlässigten eine Reihe von Malern mehr und mehr die überkommenen Pinsel- und Tuschestrukturen, seit Jahrhunderten konstitutive Bestandteile des chinesischen Bildes. Die ausgeprägten „cun“ traten gegenüber flüssigen Aquarelltechniken zurück, der Vortrag wurde immer eigenwilliger. Die begabten Künstler erfanden neue malerische Strukturen. Es begannen sich individuelle Ausdrucksweisen zu entwickeln, die man als so etwas wie „persönliche Stile“ bezeichnen könnte, worin die Stilvorlagen immer mehr zurückgedrängt wurden.
Gewisse veränderte oder gar neue Bildelemente, wie ein gefärbter oder getönter Himmel und zuweilen eine „normalere“ Raumsicht mit tiefem Horizont, Überschneidungen des Hintergrundes zum Beispiel durch näher stehende Bäume, deutliche Verkleinerung entfernterer Häuser, Pflanzen oder Figuren, all dies scheint auf die Kenntnis europäischer Stiche hinzuweisen, die von den christlichen Missionaren ins Land gebracht wurden.
Li Zai
Von den Malern, die gemeinsam mit Dai Jin während der Xuande-Ära am Hofe dienten, gehörte Li Zai (tätig ca. 1426-1435) zu den Begabtesten. Wenig ist über sein Leben bekannt. Er stammte aus Putian, Fujian. Bevor er an den Kaiserhof berufen wurde, soll er in Yunnan gelebt haben. In den heute noch bekannten Landschaftsbildern finden sich keine Andeutungen einer südlichen Umgebung oder Atmosphäre. Nicht der erlebte Natureindruck, sondern die Aneignung eines vorgebildeten Stils bestimmte seine Kunst. Einer der führenden Künstler Japans, Sesshu (1420-1506), bezeichnete Li Zai als den bedeutendsten chinesischen Landschaftsmaler seiner Zeit. Von ihm (und einem anderen, heute unbekannten Maler) habe er das Kolorieren und die Malerei mit schwarzer Tusche erlernt. Wenn auch Sesshus Bewertung wohl auf ungenügender Kenntnis der damaligen Kunstströmungen beruht, zeigt dies doch die hohe Wertschätzung, die Li Zai seinerzeit genoss.
Weite Flusslandschaft und ferne Gipfel
Nur wenige seiner Werke sind erhalten. Neben zwei Landschaften in Japan (eine im Nationalmuseum, Tokyo) gibt die Hängerolle „Weite Flusslandschaft und ferne Gipfel“ im Palastmuseum, Peking, eine Vorstellung von seiner Malweise . Von der ungefähren Bildmitte aus baut sich ein mächtiges Felsmassiv auf und ragt bis zum oberen Bildrand. Der Vordergrund wird beherrscht von einer Baumgruppe. Links davon öffnet sich ein Flusstal. Vorne liegen Boote am Ufer, deren Insassen verschiedenen Beschäftigungen nachgehen. Einer spielt die Querflöte. Etwas oberhalb ist ein Pavillon halb in den Fluss gebaut, ein Gelehrter ist auf der offenen Veranda zu erkennen. Im Mittelgrund, am Fuß des Bergmassivs, sind einige Behausungen in einem Hain gruppiert. Weitere Gebäude schauen in größerer Entfernung aus einem Tal hervor, das sich links des Hauptbergs öffnet, während rechts oben in einer Schlucht, ganz an den Bildrand gedrängt, ein Tempel sichtbar ist. Hinter dem zentralen Gipfel schließt eine von links ansteigende gezackte Bergkette das Tal.
Es ist ein typisches Kompositionsschema der Nord-Song-Malerei, wobei der Blick des Betrachters von unten ins Bild eingeführt wird, um dann auf verschlungenen Pfaden darin umherzuwandern bis er zum höchsten Gipfel gelangt. Vergleicht man Bildaufbau und Details mit dem Bild „Früher Frühling“ von Guo Xi siehe auch, so wird die enge Anlehnung an diesen Meister deutlich. Hier wie dort beherrscht ein zentrales Bergmassiv das Ganze. Die Felsen ballen sich wolkenartig und sind im Aufsteigen hintereinander geschichtet. Die meisten Felsüberhänge neigen sich nach links, also in Leserichtung der chinesischen Schrift und des Kompositionsablaufs einer Querrolle. Nach links öffnet sich das Flusstal und führt zum entferntesten Punkt der Komposition. Und genau wie im Vorfrühlingsbild Guo Xis bildet die Gruppe knorriger, alter Bäume unten das Eingangsmotiv, liegen links Boote im Wasser (bei Guo Xi ist es nur eines, ein zweites wird bei ihm von rechts herangerudert) und findet sich oben rechts ein Kloster, eingezwängt in eine enge Felsenschlucht. Die Bäume haben das typische Krebsscherengeäst Guo Xis, das aber auch schon bei Li Cheng zugeschriebenen Werken auffällt siehe auch. Ebenso erinnert die flache Perspektive des vorderen Uferpavillons an Li Cheng. Sie gewährt Aufsicht auf das Dach und zeigt das Gebäude fast in Frontalsicht.
Dagegen stellt Li Zai einige Häuser des Mittelgrundes mit der üblichen Dachaufsicht dar, wie sie von einem erhöhten Standpunkt aus wirkt. Andere, nähere wie fernere Häuser, sind wiederum in Seitenansicht gegeben. Wenn auch kaum spürbar, geben diese wechselnden Blickwinkel dem Bild etwas Instabiles. Unverkennbar wird dieser Eindruck, durch die dynamische Wellenbewegung der Erd- und Felsformationen, welche das Bild hin- und herwogend durchfahren. Das konsequente Ansteigen der Komposition zum Gipfel bei Guo Xi wird hier unterbrochen durch horizontale Einschnitte in die Landschaft, die zudem noch kontrastreich gegen leichte Dunstzonen und helle Bodenwellen abgesetzt sind. Massierter Baumbestand und stark konturierte Felsstrukturen durchziehen diese Einschnitte in dunklen bis schwarzen Tönen. Ein weiterer Kontrast betrifft die Tiefenentwicklung innerhalb des nach hinten abgeschlossenen Bildraums. Bei Guo Xi sind die Boote des Vordergrunds bereits weit entfernt, die Menschen winzig. Bei Li Zai sind sie nahe gerückt und detailliert gezeichnet, ebenso wie der Pavillon am Flussufer. Dadurch entsteht eine größere Distanz zwischen dem Vordergrund und dem tiefsten, entferntesten Punkt des Bildes. Bei Guo Xi türmt sich der axiale Felsrücken zum Gipfel auf, nur unterbrochen durch eine Nebelzone. Um ihn ordnen sich gleichgewichtig alle anderen Bildelemente und er verleiht der Komposition Festigkeit. Bei Li Zai dagegen ist der Felsrücken geknickt und durch tiefe Spalten gegliedert. Die Hauptmasse der Landschaftsformation ist nach rechts verrückt. Hierdurch wird dem Bild eine Asymmetrie verliehen, die den Eindruck von Dynamik und Instabilität verstärkt und so die unverrückbare Festigkeit und Monumentalität des Vorbilds verfehlt. Hier wirkt sich der Einfluss des Süd-Song-Landschaftskonzepts aus. Vollends deutlich wird dies an der Bergkette des Hintergrundes, die so bei Guo Xi nirgends zu finden ist: die zackigen Höhen sind silhouettenhaft laviert als befänden sie sich hinter fernem Dunst.
In Übereinstimmung mit dem bewegten Bildaufbau steht der dynamische Pinselduktus Li Zais. Er wurde von den Kritikern, die dem Literatenstil anhingen, als unbeherrscht, nachlässig und wild empfunden. Tatsächlich scheinen sich viele Pinselschläge Li Zais aus einem gewissen Überschwang seiner heftigen Malweise zu erklären. Wenn sie oft auch keinen gegenständlichen Sinn haben, sind sie doch als graphische Elemente von Belang. So lockern zum Beispiel über die Felsrücken zerstreute Tupfen die Oberfläche dort auf, wo sie dem Maler zu unbewegt erschien.
In der dynamischen Malweise Li Zais kündigt sich die Emanzipation der Bildmittel von der engen Bindung an den Gegenstand an. Ebenso zeigt sich bei ihm jene Überlagerung verschiedener Stile, welche für die Ming-Malerei kennzeichnend wurde.
Dai Jin
Im Unterschied zu Li Zai modellierte Dai Jin siehe auch seine Malerei wie die Mehrzahl der Hofmaler nach dem Stil der Süd-Song-Akademie. Bei ihm entsprang diese Wahl seiner geistigen Ahnen jedoch nicht aus rationalen Überlegungen oder einer reaktionären Kunstpolitik des Hofes, sondern er knüpfte an eine ungebrochene, noch lebendige Überlieferung in seiner Heimat an, mit der er von Jugend an vertraut war, mit der er aufgewachsen war, und an der er sich künstlerisch geschult hatte. In der Umgebung des nahe gelegenen Hangzhou, wie auch dort selbst, waren zweifellos noch zahlreiche Meisterwerke aus der Blütezeit der Süd-Song-Malerei vorhanden, die er studieren konnte. In einigen Werken, die möglicherweise aus seiner Zeit am Hofe stammen, scheinen Kompositionsmuster in der Art Guan Tongs und Guo Xis auf.
Nach seiner Rückkehr aus Peking setzte er wohl zunächst noch den perfektionistischen Akademiestil fort, befreite sich dann anscheinend schrittweise von den Fesseln der Konvention und interpretierte den Süd-Song Stil ungebundener. Vermutlich hätte der Fortbestand der Süd-Song Tradition in Zhejiang allein nicht genügt, die spätere Zhe-Schule entstehen zu lassen. Es bedurfte eines überragenden Talentes, um künstlerische Lösungen zu finden, die einen ins Provinzielle abgesunkenen Stil wieder befruchteten. Dais Nachfolger waren meist Berufsmaler, denn um ihm nahe zu kommen, war eine erhebliche technische Versiertheit Voraussetzung. Nur so konnten sie auf den Konzeptionen des Einzelgängers aufbauen. Zu seinen Lebzeiten blieb er weitgehend isoliert. Erst nach seinem Tode erkannte man seine Bedeutung, nicht nur unter den Anhängern. Sogar spätere Kritiker der Literatenschule erkannten sie an, obwohl er zu den von ihnen verachteten Berufsmalern gehörte. Für ihn war Malerei kein spielerisches Vergnügen, sondern Zentrum seiner Existenz. Hundert Jahre nach seinem Tod schrieb Wang Shizheng, Literat und Kunstkenner, auf ein Bild des Malers: „Dai Jin … malte ununterbrochen sein ganzes Leben lang, doch konnte er sich niemals eine volle Mahlzeit leisten. Das war sein geringeres Missgeschick. Nach seinem Tode wurde er berühmt in Wu, aber nach hundert Jahren sah man ihn nicht mehr als gleichbedeutend mit Shen Zhou an. Das war sein größeres Unglück …“.
Späte Heimkehr von einem Frühlingsausflug
Ein unsigniertes Werk, das ihm zugeschrieben wird und das noch Züge einer akademischen Malweise trägt, ist die Hängerolle „Späte Heimkehr von einem Frühlingsausflug“ im Nationalen Palastmuseum, Taipei . Der Aufbau entspricht auf den ersten Blick der Eineck-Komposition eines Ma Yuan oder eines Xia Gui. Aus der rechten unteren Ecke wächst eine Kiefer diagonal ins Bild, eine zweite ist vom Bildrand angeschnitten. Darunter die Mauer eines Gehöfts, von einer geschlossenen Pforte unterbrochen, an die ein vornehmer Mann klopft. Hinter ihm steht sein Diener mit einem Pferd. Da der Blick von dem üblichen erhöhten Standpunkt aus das Ganze übersieht, erkennt man hinter der Mauer einen Mann mit einer Laterne herbeieilen, wodurch die Abenddämmerung angezeigt wird. Die Szene erklärt den Bildtitel. Einige Bäume, die über die Mauer hängen und bis zum Ufer eines Sees oder Flusses ragen, geben dem Vordergrund weiteres Gewicht. Am unteren Bildrand schwingt eine Brücke in straffem Bogen über einen Wasserlauf. Zwei heimkehrende Bauern, schwer mit Lasten beladen, sind im Begriff, sie zu betreten. Blühende Pflaumenbäume links in der äußersten Ecke deuten die Jahreszeit an. Auch in dem nahen Gehöft blüht es, im fernen Dorf und auf den Höhen. Links öffnet sich eine dunstüberzogene Wasserfläche, über die ein Erddamm führt. Auf ihm streben zwei Bauern mit geschulterten Hacken dem Dorf zu, ein weiterer Hinweis darauf, dass es Abend ist. Ein Steg verbindet den Damm mit einer baumbestandenen Landzunge, auf welcher einige Hütten im Abenddunst zu erkennen sind. Eine Frau treibt ihre Gänse vom Ufer zum Dorf. In einem fernen Tal ragt ein Tempel hinter nebelverhangenen Bäumen hervor, rechts darüber auf einem Hügel ein Aussichtspavillon. Dahinter verstellen bewaldete Höhen den Blick in die Ferne. Sie fallen steil von rechts zu Tal und lassen links nur einen schmalen Durchblick auf einen ferneren Höhenzug.
So illustrativ das Bild anmutet wegen seiner vielen erzählerischen Details - es ist ein echtes Landschaftsbild, in dem die Figuren zwar eine belebende, doch untergeordnete Rollen spielen, ja einige von ihnen sind erst beim genaueren Hinsehen wahrnehmbar. Trotz ihrer Winzigkeit sind sie von verblüffender Genauigkeit in Bewegung und Ausdruck. Es ist eine Landschaft, in der wesentliche Elemente vorhanden sind, welche ein typisches Süd-Song-Bild ausmachen: Betonung einer Seite der Komposition, dunstverhangene Ferne, stimmungsvolle Atmosphäre. Und dennoch ist hier alles anders. Im Gegensatz zu den führenden Süd-Song-Malern, die Meister in der Tonabstufung auch der Zeichnung waren, sind hier alle Einzelheiten, wenn auch nuanciert, mit gestochener Schärfe festgehalten. Zwar kalligraphisch bewegt bei Bäumen, Pflanzen und Landschaftsformationen, wirkt die Linienführung dennoch unelastisch und trocken, ja zuweilen hart. Zugleich erweist sich der Maler als Meister hauchfeiner Abstufungen im dunstevozierenden Lavis. Abgesehen vom Sujet und von der konventionellen Gesamtkonzeption waren es gewiss diese Glätte und Perfektion der Ausführung, welche am Hof Bewunderung und Neid erregten und die dem akademischen Kunstbegriff entsprachen. Den meisten seiner Zeitgenossen dürfte dabei entgangen sein, wie frei Dai Jin mit den vorgegebenen Stilelementen umging. Da, wo ein Song-Meister sich mit einer einzigen anekdotischen Andeutung begnügt hätte, um die Ergänzung der Phantasie des Betrachters zu überlassen, lässt Dai Jin seinen erzählerischen Einfällen freien Lauf. Und da, wo der Song-Maler andeutet, führt Dai Jin aus. Dabei hält er sich nicht streng an die Betonung einer Seite oder gar nur einer Ecke, sondern verstreut malerische wie erzählerische Akzente locker über die Bildfläche, ohne jedoch die Asymmetrie der Bildorganisation aufzugeben. So hätte ein Süd-Song Meister die fernen Höhen sich im Dunst verlieren lassen und nur die Kiefern und die Szene im Vordergrund deutlich dargestellt. Dai Jin aber holt die Berge wieder heran, nachdem er sie durch den Abendnebel entrückt hat: er zeigt ihre Vegetation mit der gleichen Prägnanz und dunklen Tuschetönen wie die nahe stehenden Bäume. Es entsteht ein völlig anderer Eindruck, als bei einem Süd-Song-Bild: wo dort ahnungsvolle Ferne suggeriert wird, ist hier der Bildraum klar begrenzt. Und wo dort die Bildfläche im Lyrisch-Unbestimmten bleibt, wird sie hier dynamisiert durch den kontrastreichen Wechsel leerer und deutlich definierter Zonen, deren kräftige Tonwerte und Detailgenauigkeit Vorder- und Hintergrund zusammenschließen.
Mit der Zither einen Freund besuchen
Vergleicht man dieses Bild mit der Querrolle „Mit der Zither einen Freund besuchen“ im Museum für Ostasiatische Kunst, Berlin, so könnte man glauben, einen anderen Künstler vor sich zu haben . Das Bild ist signiert, das Datum entspricht dem Jahr 1446. Die Rolle beginnt rechts mit einer offenen Hütte, worin ein Gelehrter an einem Tisch sitzt. Das Strohdach ist an einer Ecke beschädigt, und auch der gekippte Zaun zeigt an, dass der Besitzer keinen besonderen Wert auf äußerliche Kleinigkeiten legt. Um die Hütte wachsen Kiefern und Bambus, dahinter schaut ein zweites Strohdach hervor. Links folgen drei Kiefern auf einem niedrigen Hügel, sie bilden den dunkelsten Akzent der Rolle. Auf einem Steg nähert sich von links der erwartete Freund im langen Gewand des Gelehrten. Hinter ihm trägt ein Junge die Zither. Das Boot des Besuchers liegt am schilfigen Ufer eines weiten Gewässers. Jenseits erstreckt sich eine Bergkette, die sich zum Bildende hin im Dunst verliert.
Wie in einer Süd-Song-Landschaft liegt das Hauptgewicht der Komposition auf einer Seite, hier am Beginn. Die gegenständlichen Andeutungen werden im Verlauf der Rolle immer spärlicher. Boot und Schilf bestehen lediglich aus wenigen vereinzelten Strichen und die letzten aus dem Nebel ragenden Bergspitzen sind nur noch hauchzart hingewischt - würdig eines Xia Gui. Das Bild ist mit einer geradezu spielerischen Lockerheit gemalt, der keine Spur mehr von akademischer Strenge und Härte der Zeichnung anhaftet, obwohl kleine Details, wie die Figuren, mit unverminderter Genauigkeit gezeichnet sind. Eine flüssige Lavierung mit zarter Modellierung ferner Bäume und Berge im Dunst durchzieht das Bild. Die tonig abgestuften Umrisslinien sind nicht durchgezogen, sondern oft unterbrochen, zuweilen verfließen sie völlig im Lavis. Die Vegetationspunkte auf den Bergkämmen bestehen aus schwarzen Tupfen und rücken wie im Heimkehr-Bild die Berge wieder näher. Sie sind so frei und locker hingetupft, dass sie teilweise sozusagen in der Luft schweben. Wie die gleichen Punkte des Vordergrundes haben sie keine streng gegenständliche Bedeutung, obwohl sie natürlich Büsche und Bäume suggerieren sollen. Sie haben im wesentlichen eine graphische Funktion in weit stärkerem Maße, als die „Moospunkte“ der älteren Meister. Dai Jin hat hier die gleiche Unbeschwertheit und Lockerheit erreicht wie in seinem Luohan-Bild siehe auch.
Fischer auf einem Fluss
Geht das erzählerische Element in der Besucher-Rolle nicht über das übliche Maß eines chinesischen Landschaftsbildes hinaus, so folgt Dai Jin in der berühmten Querrolle „Fischer auf einem Fluss“ (Freer Gallery of Art, Washington), ganz seiner Neigung zum Anekdotischen, seiner Lust am Fabulieren . Auf der ca. acht Meter langen Rolle sind ungezählte kleine Fischerfiguren mit allen nur denkbaren Tätigkeiten ihres Handwerks beschäftigt. Ihre hektische Aktivität erweckt den Eindruck wimmelnden Lebens auf dem Fluss, ganz im Unterschied zur kontemplativen Stille der Fischer-Rolle von Wu Zhen, mit der sie oft verglichen wird siehe auch. In einem freien, man möchte sagen „musikalischen“ Rhythmus gewährt uns der Künstler wie im Flug die Sicht aus der Vogelperspektive auf festes Land mit Gestrüpp, Felsen und Bäumen, über Marschlandschaften, sumpfige, von Schilf und Bambus bestandene Strände, über Kähne und Menschen auf dem Wasser und am Ufer, beim Staken oder Angeln, beim Fischen mit Kormoranen oder Reusen, beim Netze auswerfen, oder beim Picknicken - bis der Blick in der dunstigen Atmosphäre der weiten Flussebene sich verliert. Und dennoch ist es hier nicht eine Stimmung, die gefangen nimmt, sondern die Vehemenz des Vortrages, die bravouröse Technik: das Eigentliche ist das Spiel des Pinsels. Die Farbe ist zurückhaltend, nur begleitend eingesetzt - helles Blau, Grün, Ocker, Braun und Rot. Das Wesentliche sagt die Zeichnung aus. Sie ist von einer geradezu beängstigenden Virtuosität, wobei der graphische Eigenwert der Strukturstriche besonders deutlich wird. Sie stehen meist unverbunden nebeneinander und geben dennoch prägnant wieder, was sie darstellen sollen: Schilf, Blätter, Astwerk, Fels, usw. In der Darstellung der Menschen, deren Bewegungen und Haltungen trotz ihrer Winzigkeit mit wenigen unverbundenen Strichen witzig und treffend festgehalten sind, in der präzisen Schilderung der Boote und Gerätschaften zeigt sich eine überperfekte Sicherheit der Hand, die einhergeht mit einer gewissen Härte und Sprödigkeit des Strichs, welche besonders dort ins Auge fällt, wo die Tusche unverdünnt schwarz stehen blieb.
Trotz der Genauigkeit der Beobachtung handelt es sich nicht um einen oft konstatierten Realismus, sondern im Gegenteil um die Ablösung bildnerischer Mittel von gesehener Wirklichkeit. Dai Jin hat nicht handschriftlich-expressive Züge in das Landschaftskonzept der Süd-Song eingebracht, er hat sich hier gleich weit von einer Wirklichkeitswiedergabe, wie vom Lyrismus der Süd-Song entfernt, vergleicht man nur diese Rolle beispielsweise mit den „Zwölf Ansichten“ des Xia Gui siehe auch, worin ja ebenfalls eine weite Flusslandschaft dargestellt ist.
Zhou Wenjing
Zu den Hofmalern, die man später der Zhe-Schule zurechnete, da sie ähnlichen Konzepten folgten wie Dai Jin, gehörte Zhou Wenjing (tätig ca. 1430-1463) aus Putian, Fujian. Zunächst Hofastrologe, bewies er sein malerisches Können, als er in einem Wettbewerb der Akademie den ersten Preis davontrug. Gewiss hat er Arbeiten von Dai Jin gekannt, der ja ebenfalls während der Xuande-Ära am Hofe Dienst tat. Ob er unmittelbar von Dai beeinflusst war, der ja nur kurz in Peking wirkte, ist ungewiss. Zhou soll sich hauptsächlich Xia Gui und Wu Zhen zu Vorbildern genommen haben, obwohl Wu zu den am Hofe wenig geschätzten Yuan-Meistern gehörte. Vielleicht waren es seine atmosphärische Malweise, das Stimmungshafte, die Ruhe seiner Bilder, die ihn akzeptabel machten.
Zhou Maoshu bewundert den Lotos
Dass Zhou anderen Modellen folgte, lässt sich ablesen an einer großen Hängerolle aus dem Jahr 1463: „Zhou Maoshu bewundert den Lotos“ (Sammlung Inouye, Tokyo) . Der Bildaufbau entspricht in großen Zügen einer Süd-Song-Landschaft. Ganz im Vordergrund links ein offener, reich dekorierter Pavillon, der vom Ufer aus auf Pfählen ins Wasser gebaut ist. Innen sitzt der Philosoph und schaut auf den See, der die rechte untere Bildecke einnimmt und an dessen Rand sich Lotos ausbreitet. Ganz unten rechts legt ein Kahn an. Der Fischer darin, der mit einer Stange manövriert, der Philosoph und ein ferner Reiter auf einem Esel sind überzeugend in ihren Haltungen und mit höchster Genauigkeit gezeichnet. Sie deuten auf die Fähigkeiten des Künstlers als Figurenmaler. Links vorne windet sich eine verkrümmte Kiefer empor. Einer ihrer Äste neigt sich schützend über den Pavillon. Weitere Büsche und Bäume sowie das kantige Steilufer verdichten die linke untere Bildhälfte, während der See am rechten Bildrand in die Bildtiefe hinein abfließt. Hier sperren dunstüberzogene Steilhänge den Blick. Hinter ihnen erheben sich drei spitze Felszinnen, die nach links ansteigen. Eine gewaltige Felsmasse bildet den Mittelgrund und beherrscht das gesamte Bild. Ihre steilen Flanken bilden eine Diagonale, die vom oberen Bildrand nach rechts abfällt und die Komposition teilt in eine verdichtete Zone links und eine sich in die Tiefe entwickelnde Raumzone rechts. Doch auch hier, wie bei Dai Jin, ist das Zurückspringen des Raumes nicht konsequent durchgeführt, denn die aus dem Nebel steigenden fernen Bäume sind mit solcher Deutlichkeit definiert, dass sie Abhänge und Felswände wieder heranrücken. Die Malweise zeigt keine hervorstechende Handschrift. Die Felsstrukturen sind mit den konventionellen Axthieb-cun behandelt, die Tusche ist vollsaftig und in reichen Tönen eingesetzt, die Zeichnung genau, ohne expressive Züge.
Von Ma Yuan gibt es Bilder dieser Art, und seit der Song-Zeit sind ähnliche Landschaften mit einem Pavillon im Vordergrund bekannt. Das Kompositionsschema dieses Bildes entspricht fast wörtlich der „Unterhaltung in einem Flusspavillon“, das Liu Songnian zugeschrieben wird siehe auch, nur seitenverkehrt. Bei Liu entrückt die eine Bildhälfte in dunstverhangene Ferne, während das Gewicht der Komposition allein auf der Pavillonseite liegt. Und es sind nur einige Felszinnen, die auf dieser Seite emporragen, keine Bergmasse. Bei beiden Bildern ist der Pavillon etwa auf der Blickhöhe des Betrachters, das heißt es handelt sich um einen tiefen Horizont. Konsequenterweise ist ein solches Bild nicht „betretbar“, man kann nicht darin „umherwandern“ wie in einem Bild mit erhöhtem Blickwinkel. Bei Zhou wird der Blick immer wieder verstellt durch Raumsperren, den vorspringenden Felsen und Abhängen. Ähnlich wie bei Li Tang am Übergang zwischen Nördlichem und Südlichem Song-Stil ist die Landschaft näher gerückt, als in einem Nord-Song-Panorama. Durch ihren asymmetrischen Aufbau bekommt sie jedoch etwas Ausschnitthaftes, so, als sei die gewaltige Felsmasse, welche in der Komposition dominiert, nur das Fragment eines noch gewaltigeren Bergmassivs, wie es im Mittelpunkt einer klassischen Nord-Song Komposition steht.
Die hier zutage tretenden Stilkomponenten verschiedener Zeitebenen zeigen Zhou Wenjing als Eklektiker, dem es gelingt, unterschiedliche Stilschichten zur Einheit zu bringen. Insofern ist er typisch für seine Epoche.
Wang E
Der Maler, welcher dem Akademie-Stil der Süd-Song vermutlich am nächsten kam, war Wang E (tätig ca. 1488-1521). Er stammte aus der Malerstadt Ningpo, Zhejiang. In der Hongzhi-Periode (1488-1505) wurde er an den Hof berufen. Oft zitiert wird der Ausspruch Kaiser Xiao Zongs, Wang E sei „der Ma Yuan unserer Zeit“, was seinen Stil kennzeichnet und zugleich die Wertschätzung zeigt, die ihm zuteil wurde. In der Regierungszeit Zhengde (1506-1521) erhielt er den Ehrentitel eines Kommandeurs der Brokatkleidgarde. Wegen Krankheit nahm er seinen Abschied und kehrte in seine Heimat zurück, wo er bis ins hohe Alter lebte und arbeitete. Er starb mit achtzig Jahren.
Auf der Suche nach der Pflaumenblüte im Schnee
Seine Bemühungen um die Rückgewinnung des Süd-Song-Stils - eher parallel zu Dai Jin, als unmittelbar von ihm beeinflusst und ohne dessen freiere Interpretation - demonstriert eine Hängerolle des Palastmuseums, Peking: „Auf der Suche nach der Pflaumenblüte im Schnee“ . In der typischen Diagonalkomposition der Süd-Song fällt im Mittelgrund von links oben ein Felsvorsprung steil in die Tiefe. Er beherrscht das gesamte Bild. Rechts verschwindet er in einem Abgrund, dessen Leere in der Ferne von einem Berghang aufgefangen wird. Im Hintergrund sind spitze Felszinnen und steile Berge silhouettenhaft gegen den Himmel gezeichnet. In Umkehrung der üblichen Darstellungsweise stehen sie hell und scharf, aber ohne Konturzeichnung, vor dem dunkel getönten Himmel. Ebenso sind große Flächen des zentralen Felssturzes und des Vordergrunds ausgespart und stellen auf diese Weise überzeugend Schnee dar. Ein vorspringendes Felsplateau, durch eine Schlucht getrennt vom Hauptmassiv, nimmt die linke untere Ecke ein. Hier stehen zwei knorrige, alte Pflaumenbäume vor schräg nach links ansteigenden Felsen, welche die Hauptdiagonale noch einmal bekräftigen, während der nach rechts emporwachsende Baum eine spannungsvolle Gegendiagonale bildet. Rechts bricht das Plateau jäh ab. Aus der dunstigen Tiefe tauchen schemenhaft die Umrisse von Kiefern auf. Um die Felsnase hinter den beiden Bäumen biegt eine kleine Gruppe Reisender: ein Mann zu Pferd, eingehüllt in einen langen Mantel, mit Kopftuch und einem breiten Hut. Er wird von drei Dienern begleitet, die alle offenbar frierend ihre Hände in den Ärmeln versteckt halten. Einer bedeckt mit sprechender Geste Mund und Nase. Der vornehme Reisende sucht hier vergeblich nach den ersten Anzeichen des Frühlings, denn die kahlen Äste tragen nur das Weiß des Schnees. Die Szene erinnert an einen Dichter der Tang-Zeit, dem nachgesagt wird, er sei im tiefen Winter nach Inspiration suchend umhergezogen.
Die dichte Stimmung des Ausgesetztseins, von Verlassenheit und Öde, die kalten, aufsteigenden Nebel, die ganze winterliche Erstarrung der Natur sind mit einer technischen Bravour vermittelt, die der Dai Jins nicht nachsteht - nur eben mit Stilmitteln Ma Yuans. Deren Vergröberung, die man Wang E zuweilen nachsagt, fallen hier nicht auf. Große Zonen in breitflächigem Lavis sind mit Gespür für zarte Nuancen modelliert, die breiten „Axthieb“-Striche sind sparsam eingesetzt nur da, wo sie notwendig sind, Konturen sind kantig gezogen, die Äste spitzig und eckig, ganz nach Art des Süd-Song-Meisters. Nicht zuletzt in den straff gezackten Gewandfalten der kleinen Figuren und ihren genau getroffenen Bewegungen scheint das Vorbild wiedererstanden zu sein. Trotz der Stilimitation behält das perfekt gemalte Bild seinen Eigenwert. Mit Nachschöpfungen dieser Art gelang es Wang E neben anderen Künstlern aus dem Umkreis der Zhe-Schule, den Geist der Süd-Song Akademie in die Ming-Zeit zu übertragen.
Zhu Duan
Die allmähliche Entfernung vom ursprünglichen Ideal der Süd-Song Akademie, welches die Richtung der Hofmalerei und der frühen Zhe-Schule bestimmt hatte, zeichnet sich im Werk Zhu Duans ab (tätig Anfang des 16. Jhds.). Er stammte aus Haiyen, Zhejiang, wurde 1501 an den Hof berufen und diente noch in der Zhengde-Ära (1506-1521). Man rechnete ihn dem weiteren Umkreis der Zhe-Schule zu, obwohl er offenbar keine Verbindung zu seinem etwas älteren Zeitgenossen Wu Wei hatte und schon gar nicht von ihm beeinflusst war.
Flusslandschaft nach Guo Xi
Was bei ihm noch an die Süd-Song erinnert, ist die asymmetrische Komposition, ja zuweilen die Betonung einer Bildecke. Auch das frühste bekannte, 1501 datierte Werk weist dieses Merkmal auf: „Flusslandschaft nach Guo Xi“ (Nationalmuseum, Stockholm) . Doch weder die Malweise erinnert an die Ma-Schule noch die räumliche Konzeption. Dargestellt ist rechts ein steiles Felsengebirge mit einem Wasserfall. Hoch oben liegt ein Tempel in einer Schlucht. Bizarre Bäume ragen im Mittelgrund auf einem überhängenden Fels empor, während andere sich zu einem breiten Fluss hinabneigen, der sich links in die Ferne erstreckt. Vor den steil abfallenden Felsen stehen knorrige Kiefern, vom rechten Bildrand angeschnitten. Den Vordergrund bilden ganz unten ein Steg, die Kronen verkrümmter Bäume und anlandende Fischer in ihren Kähnen. In größerer Entfernung schwimmen noch andere Boote auf dem Fluss.
Die sorgfältige Zeichnung, lebendig, aber ohne handschriftliche Effekte, folgt Guo Xi sowohl in den Felsstrukturen als auch in den Bäumen mit den typischen Krebsscherenästen. Tatsächlich wirkt das Ganze wie die leicht variierte linke Hälfte des Vorfrühlingsbildes von Guo Xi siehe auch. Auch hier also wieder das Näherrücken und das Ausschnitthafte einer Nord-Song-Konzeption, wie sie bei Zhou Wenjing zu beobachten ist. Im Vergleich zu Guo Xi ist Zhu Duans Malweise lyrischer, seine Zeichnung ist linearer, ohne Guos kraftvolle, schwarze Konturen und dessen dramatisch massierte Dunkelzonen. Und auch die Bildtiefe schließt er anders ab als Guo Xi, anders auch als Ma Yuan. Wo dieser ahnungsvolle Weite durch verschwimmenden Dunst dargestellt hätte, also durch Leere, setzt Zhu im oberen Bilddrittel eine deutliche Horizontlinie mit klar definierten, flachen Höhenzügen in der Weise der Yuan-Meister, insbesondere Ni Zans.
Hier kündigt sich an, was sich im Laufe des 16. Jahrhunderts immer deutlicher abzeichnen sollte: die Annäherung eines Teils der Zhe-Meister an die Vorstellungen der Wu-Schule und der Literatenmaler.
Lan Ying
Der letzte Maler von überdurchschnittlichem Talent, den man der Zhe-Schule zurechnete, war Lan Ying (ca. 1578- 1660). In Qiantang, Zhejiang, geboren, wirkte er sein Leben lang als Berufsmaler in der Gegend von Hangzhou. Diese beiden Fakten, zusammen mit seiner Geschicklichkeit, in verschiedenen Techniken und Stilen zu arbeiten, trugen ihm den Ruf ein, der letzte Meister der Zhe-Schule gewesen zu sein, was im Sinne der Literatenmalerei, der vorherrschenden Tendenz in der späten Ming-Zeit, kein ungetrübtes Lob bedeutete. Allein basierend auf stilistischen Merkmalen, ließe sich eine so eindeutige Zuordnung kaum halten. Lan Ying begann mit Kopien von Landschaftsmeistern der Tang-, Song- und Yuan-Dynastien, wobei „jeder Pinselschlag dem alten Vorbild entsprach“. Unter seinen zahlreichen Schülern ragte Chen Hongshou hervor. Dass seine Schüler die Ideale der Zhe-Schule nicht weitertrugen, spricht schon dafür, dass er selbst sie nicht mehr verfocht. Weder lassen sich Einflüsse Dai Jins noch der Süd-Song Akademie in seinem Werk erkennen. Vielmehr sind es vorwiegend die Yuan-Meister und deren Vorbilder, die er aufgreift. Sein Werk ist vielgestaltig, dank der verschiedenen Meister, denen er sich mit hohem Einfühlungsvermögen näherte. Unter seinen Motiven finden sich auch Blumen und Vögel, sein Hauptaugenmerk galt jedoch der Landschaft.
Kein Maler der Ming-Zeit war so sehr mit Stilproblemen befasst und kaum einem gelang es, sich den Vorbildern so anzuverwandeln - auf Kosten eines persönlichen Stils. Eine gewisse Eigenart ist darin zu erblicken, dass Lan Ying die alten Meister frei interpretierte, also nicht „wörtlich“ kopierte, sondern mit ihren Stilmitteln ihren Geist zu erfassen suchte, sich in ihre Vorstellungswelt einfühlte, ihrem Gefühl für Rhythmus, Fläche, Raum, Struktur und nicht zuletzt ihrem Temperament nachspürte, wie es sich im malerischen Duktus ausspricht. Er beherrschte die Stilmittel seiner Vorbilder so souverän, dass er es wagen konnte, eine Synthese verschiedener Meister auf einer Rolle zu versuchen. Es wurde ein wesentliches Merkmal seiner Arbeitsweise. Auf einer Querrolle des Fuller Art Museums, Seattle, datiert 1624, entfaltet sich eine Landschaft aus Bergen , Flüssen , Wäldern, Felsen , Wasserfällen und verstreuten, halb versteckten Behausungen, worin Lan Ying nach eigenem Zeugnis die Malweisen Don Yuans, Huang Gongwangs, Wang Mengs und Wu Zhens vereinte, wie die Inschrift besagt . Andere Meister seiner Wahl waren unter anderen Zhang Sengyou der Sechs Dynastien-Zeit, Mi Fu der Nördlichen Song, Zhao Mengfu und Gao Kegong der Yuan.
Landschaft nach Cao Zhibo
Auf mehreren Albumblättern aus dem Jahre 1642 der Sammlung des Metropolitan Museums, New York imitierte er verschiedene Yuan- und Song-Meister in einem lockeren und flüssigen Vortrag. Eines dieser Blätter zeigt ein bescheidenes Landschaftsmotiv: drei dürre Bäume ohne imposanten Gestus im Vordergrund, genau in der Mitte des Hochformats . Weiter hinten nach links versetzt eine weitere Gruppe von Bäumen, die völlig abgestorben sind. Aus der Ferne windet sich ein Bachlauf mit kleinen Wasserfällen nach vorne. Er durchfließt eine scheinbar morastige Ebene, in welcher sich einige flache Felsen abzeichnen. Den Hintergrund schließt ein niedriger Gebirgszug, konturlos in duftigem Blau laviert. Kein Zeichen menschlichen Lebens regt sich hier: Verlassenheit und Stille liegt über der Landschaft wie der Dunst über dem Moor. Keine heftige Bewegung oder eine ausgreifende Dynamik der Formen stört die nahezu spannungslose Ruhe. Die zarten Töne, vorwiegend lichter Ocker und helles Blau, verfließen ineinander. Sie sind nicht mehr als Lokalfarben an den Gegenstand gebunden, sondern bewegen sich in freiem Rhythmus. So haben die als graphische Sterne dargestellten Kiefernnadeln eine bläuliche, kaum wahrnehmbare Aureole. Ebenso behutsam und unprätentiös ist die Zeichnung. Ohne ausgeprägten kalligraphischen Duktus definiert sie die Formen mit trockener Tusche, was ihr eine kreidige Wirkung verleiht. Bräunliche „Moospunkte“ setzen graphische Akzente, braungrüne Blättertupfen im vorderen Baum bilden das kräftigste graphische Element und zugleich die Bildachse. Farbe und Zeichnung sind hier, wenn auch auf einer reduzierten Ebene, zur Einheit gebracht.
In der begleitenden Inschrift erläutert Lan Ying seine Intention: „Unter den Nachfolgern Ni Zans erfasste Cao Zhibo seinen Geist. Ob ich Cao Zhibos Geist in diesem Bild wiedergegeben habe?“ Deutlicher und bewusster kann das Phänomen der Stilschichtung kaum ausgesprochen werden: Lan Ying verfuhr im Stil eines Stils eines Stils. Zweifellos gelang es ihm, die Stimmungslage beider Vorbilder zu erfassen und auch die Technik des Vortrags, wie die trocken gerissene Tuschelinie Ni Zans, die er gegen eine flüssige Lavierung setzte nach Art Cao Zhibos siehe auch. Und dennoch deutet sich das Wesen einer anderen Epoche an: wo seine Vorgänger monochrom blieben, führt Lan Ying, wenn auch zurückhaltend, die aquarellierte Farbe ein. Er stellt in diesem Bild eine ausschnitthafte Landschaft dar, was er dadurch betont, dass sich das Bildgeschehen vignettenhaft im Bildzentrum verdichtet und nicht überall bis zum Bildrand geführt wird. Es ist nicht mehr die große landschaftliche Zusammenschau seiner Vorbilder (die er in anderen Beispielen sehr wohl bewältigte). Die Überschneidung der Horizontlinie durch die Bäume, von Ni Zan weitgehend gemieden, dient zur größeren Tiefenwirkung, die weder Ni noch Cao angestrebt haben und die verstärkt wird durch den fernen Höhenzug im zarten Dunst.
So zeigt sich bei Lan Ying der extreme Eklektizismus einer Spätzeit, der Halt sucht in gesicherten Werten. Zugleich äußerst sich darin Bescheidenheit: im Verzicht auf die individualistische Geste, mit der sich mancher mittelmäßiger Maler den Anstrich von Bedeutung zu geben suchte. Diese Zurücknahme des Persönlichen hinter die künstlerische Problemstellung unterscheidet ihn wesentlich von den Gelehrtenmalern und den meisten Künstlern der Wu-Schule.
Shen Zhou
Als einer der größten Meister der Ming-Dynastie, wenn nicht als der bedeutendste, galt der chinesischen Kunstkritik Shen Zhou (1427-1509) aus Suzhou, Jiangsu. Sein Einfluss auf die Literatenmalerei der Ming-Zeit und noch lange darüber hinaus ist nicht zu überschätzen. Daher schrieb man ihm auch die „Gründung“ der Wu-Schule zu siehe auch, obwohl es sich anfangs eher um einen Freundeskreis von Gelehrten und Literaten handelte, die sich den Literatenmalern der Nord-Song-Zeit und den Yuan-Meistern in ihren Auffassungen verwandt fühlten und die Shen Zhous Persönlichkeit und Werk als beispielhaft anerkannten. Zu seinen Schülern und Freunden, welche seine Wirkung weitertrugen, gehörten zwei der „Vier Großen der Ming-Zeit“, zu denen er selbst gezählt wird: Wen Zhengming und Tang Yin. Als der vierte galt Qiu Ying.
Einer Gelehrtenfamilie entstammend, genoss Shen Zhou eine ausgezeichnete Erziehung und zeigte früh seine Begabung für Poesie und Kalligraphie. Schon als Junge war er ein eifriger Leser der Klassiker. Besonders groß war sein malerisches Talent. Er hatte mehrere Lehrer, darunter sein Vater und ein Onkel, beide selbst Literatenmaler. Er kopierte die alten Meister aller Epochen und gewann eine ungewöhnliche Geschicklichkeit in der Nachahmung verschiedener Stile. Beim Tode seines Vaters brach er die Vorbereitungen auf die Staatsprüfung ab. Dennoch wurden ihm wiederholt Ämter angeboten, die er jedoch ablehnte, unter anderem deshalb, weil er sich um seine alte Mutter kümmern müsse. Er baute sich außerhalb Suzhous ein Landhaus. Hier lebte er als „Einsiedler“ zwischen seinen Büchern und Antiquitäten und empfing seine Freunde. Da er wohlhabend war, konnte er sich unabhängig von Gönnern oder Ämtern ganz seinen Interessen widmen. Von Wanderungen und Reisen kehrte er mit ungezählten Skizzen zurück. Viele dieser Albumblätter, die neben Landschaften auch Pflanzen- und Tiermotive enthalten, scheinen unmittelbar vor der Natur entstanden zu sein oder zumindest unter dem frischen Eindruck des Gesehenen.
Shen Zhous Leben verlief gesichert und in ruhigen Bahnen. In einer Reihe von Anekdoten sind seine Bescheidenheit, Menschenfreundlichkeit und Generosität illustriert. Er soll hohe Persönlichkeiten nicht empfangen haben, mit dem Hinweis auf sein bescheidenes Eremitendasein. Bilder und Gedichte habe er verschenkt an jeden, der ihn darum bat, und er half jedermann in Not. Viele ähnliche Berichte kennt man von anderen Literatenmalern, sodass der Eindruck entsteht, als werde hier ein für den Gelehrtenkünstler idealtypisches Verhalten geschildert.
Allgemein wird Shen Zhous Werk in drei Hauptperioden unterteilt. Bis etwa zu seinem vierzigsten Jahr scheint er vorwiegend kleinformatige Kopien nach Meistern der Tang- und Song-Epochen angefertigt zu haben. In seinen mittleren Jahren wagte er sich an größere Rollen und fand in den Yuan-Meistern Huang Gongwang, Ni Zan und Wang Meng kongeniale Vorbilder. Seine Spätphase war von der Kunst Wu Zhens beherrscht. Tatsächlich finden sich aber unter den Werken der mittleren und späten Jahre immer wieder Arbeiten im Stile verschiedener alter Meister. Es scheint, dass er bis in seine reife Zeit, ja bis ins Alter, die Beherrschung von Techniken und verschiedener Arten der Pinselführung in der Handschrift unterschiedlicher Temperamente übte. Vom sorgfältig ausgearbeiteten Blau-Grün-Stil der Tang oder der metikulösen Technik eines yuanzeitlichen Blumenmalers wie Wang Yuan, bis hin zur frei fließenden Tusche Wu Zhens. Ja er übte sich sogar im Stile seines „Gegenspielers“ Dai Jin. Es bedurfte schon eines überragenden Talentes und eines ausgeprägten Charakters, um bei solchem Eklektizismus nicht einem unschöpferischen Epigonentum zu verfallen. Shen Zhou entging dieser Gefahr; in seinen „Kopien“ setzt sich stets eine gewisse Eigenart durch. Parallel dazu entwickelte er in seinen reifen Jahren einen persönlichen Stil, in den die verschiedenen Einflüsse eingeschmolzen sind. Es ist ein einfacher und kraftvoller Stil, ohne Suche nach eindrucksvollen Effekten, zurückhaltend und unaufdringlich, Eigenschaften, die zum ästhetischen Ideal der Wu-Schule wurden. Seine Landschaften sind undramatisch, sie zeigen wenige vereinzelte Figuren und einfache, stille Begebenheiten.
Im Schatten der Wutong Bäume
So die Hängerolle „Im Schatten der Wutong Bäume“ des Palastmuseums, Peking . Sie stellt eine Gebirgslandschaft dar aus schroffen, kantigen Felsabbrüchen, die jedoch nicht allzu mächtig aufragen oder die Landschaft gar überwältigen. Der höchste Felsturm steigt im Hintergrund auf. Nur eine zart lavierte Kette aus spitzen Zinnen liegt weiter zurück und schließt das Bild nach der Tiefe hin ab. Im Mittelgrund, zwischen einem senkrecht abfallenden Felsplateau links und einem Steilhang rechts, bahnt sich ein Flusslauf im Zickzack seinen Weg in die Ferne. Er bildet im Vordergrund eine weite Wasserfläche, vor der sich zwei schlank aufsteigende Wutong Bäume abzeichnen und ein gekrümmtes Bäumchen. Wie der ferne Gipfel sind sie aus der Bildmitte leicht nach rechts versetzt und bilden gemeinsam mit ihm die Bildachse. Sie stehen auf einer Felsplatte, die mit anderen Felsen am unteren Bildrand das vordere Flussufer bildet. Die winzige Gestalt eines Gelehrten in langem Gewand und mit einem Wanderstab steht unter den Bäumen. Er wendet sich einem Kranich zu, der auf einem Steg neugierig nach vorne geneigt dem einsamen Wanderer zu lauschen scheint.
Auf diese Zwiesprache unter den Wutong Bäumen bezieht sich das Gedicht des Malers rechts oben. Die beiden anderen Gedichte und das Motto auf der Montierung stammen von Kaiser Qianlong (Reg. 1736-1795). Im Unterschied zu den Malern der Zhe-Schule, die gewöhnlich das Bild allein sprechen ließen, wurde bei den Literatenmalern die Gedichtaufschrift wieder wichtig wie einst bei den Yuan-Meistern: Poesie und Kalligraphie als Ergänzung oder gar integraler Bestandteil von Bildidee und Bildgestalt.
Die Malweise der Rolle ist äußerst sorgfältig. Nirgends zeigt die Linie kalligraphisches Spiel oder handschriftliche Unruhe. Ebenso sorgsam ist die Farbwahl. In feiner Nuancierung entwickeln sich aus dem Gelbocker des Seidengrundes helle Grün- und etwas kräftigere Blautöne: eine Interpretation des Blau-Grün-Stils der Tang-Zeit. Auch bei Shen Zhou folgt die Farbanordnung nicht den Bedingungen der Realität, also etwa einer räumlichen Logik oder der an den Gegenstand gebundenen Lokalfarbe, sondern kompositionellen und dekorativen Gesichtspunkten. Die Felskulisse des Hintergrundes, die in der Disposition eines Nord-Song-Meisters übermächtig wäre, ist hier verniedlicht und verharmlost. Natur erscheint nicht mehr monumental und elementar, sondern beschaulich. Die „Moospunkte“, auf fernen Höhen und auf vorderen Felsen gleich groß, betonen Umrisse und Vertiefungen der Geländestruktur wie bei Juran oder Ni Zan, nur sind sie viel sorgfältiger hingetüpfelt. Der durchdachte, klare Bildaufbau entspricht ganz einer Ni Zan Komposition: die Baumgruppe im Vordergrund, die nicht den hohen Horizont im oberen Bilddrittel überschneidet, die große Wasserfläche, die Berge darüber, welche eine deutlich definierte Begrenzung nach der Tiefe darstellen. Die kantigen Felsen mit ihren abgeflachten Plateaus kann man zuweilen bei Wang Meng finden.
All diese unterschiedlichen Stilschichten sind zu einer Einheit verschmolzen. Liebevoll und bedachtsam gemalt, ist das Bild durchdrungen von einer Atmosphäre des Friedens. Obwohl detailgenau, ohne kleinlich zu sein - die Baumblätter zum Beispiel sind einzeln wiedergegeben - sind die Naturformen gestrafft und reduziert, mit einem Anflug von Schematisierung. Das ist es, was dieser Landschaft etwas Unwirkliches verleiht. Shen Zhou entfaltet eine stille, märchenhafte Welt vor uns, die keinem ihrer Vorbilder gleicht. Ihre Harmonie erscheint weit entfernt von Natur und Leben - ein künstliches Paradies.
Wandern mit dem Stab
Es mag sein älterer Freund Liu Jue (1410-1472) gewesen sein, Bewunderer und Nachahmer der Yuan-Meister, insbesondere Ni Zans, der Shen Zhou mit dessen Werk vertraut gemacht hat. Eine Reihe „Kopien“ nach Ni Zan sind erhalten. Auf den ersten Blick könnte man die Hängerolle „Wandern mit dem Stab“ im Nationalen Palastmuseum, Taipei, für einen Ni Zan halten . Das Kompositionsschema ist das gleiche. Die Struktur der Bäume des Vordergrundes ist ganz in der Art Ni Zans gemalt. Die Bodenformationen der vorderen Uferzone und die mittelhohen Berge, die sich über der Wasserfläche des Mittelgrunds erheben, sind überzogen mit den typischen waagerecht gesetzten „Moostupfen“ Ni Zans. Aber diese Berge sind voluminöser, in greifbare Nähe gerückt im Unterschied zur kühlen Distanziertheit der Berge Ni Zans, die zwar klar und scheinbar nahe sind, aber dennoch unerreichbar bleiben. Wo Ni Zans Berge horizontal gelagert sind und die Ferne verriegeln, türmt Shen Zhou das Gebirgsmassiv auf. Wo Ni Zan seinen Kompositionen Ruhe verleiht durch wiederholte Betonung waagerechter Uferlinien und Landzungen, vermeidet Shen Zhou alle Horizontallinien. Er kippt sie, wo immer sie sich anbieten, an den Ufern, der Halbinsel, dem Steg und setzt die Formen so in Bewegung. Seine Berge füllen den oberen Bildraum völlig, sie drängen nach beiden Seiten über ihn hinaus, sie erscheinen schwer und solide. Es sind nicht die mit flachem Pinsel und trockener Tusche gerissenen Strukturen Ni Zans, sondern langgezogene, hanffaserartige Linien, die den Einschnitten und Wölbungen folgen und den Bergen damit eine starke Plastizität geben und eine Art schwellendes Wachstum. Aufs höchste gesteigert wird diese Wirkung durch den Fluss, der einen Einschnitt bildet, welcher tief ins Gebirge hineinreicht. Genau in diese Schlucht ragt der Wipfel des höchsten Baumes im Vordergrund. Er formt so eine Bildachse, die, aus der Mitte leicht nach rechts versetzt, vom Bergrücken nach oben fortgeführt wird. Auf diese Weise erhält das dynamische Geschiebe des Geländes, das sich in der Uferzone des Vordergrundes fortsetzt, wiederum Halt. Trotz der trennenden Wasserfläche hat Shen Zhou so eine eng verwobene plastische und dynamische Struktur geschaffen, die nichts mehr zu tun hat mit Ni Zans Konzept, sondern ganz seiner eigenen Auffassung entspricht. Es ist die Idee einer wärmeren, menschenfreundlicheren Welt, welche Zugang nicht verwehrt und worin der Mensch einen Platz findet. Beleg dafür ist der winzige Wanderer mit dem langen Stab, der dem Bild den Titel gab. Er strebt auf den Steg zu, welcher ihn in die Berge führen soll, undenkbar in den menschenentleerten, unnahbaren Landschaften Ni Zans.
Leben in den Fuchun Bergen nach Huang Gongwang
Ein anderes Beispiel von Shen Zhous Fähigkeit der Aneignung durch Verwandlung ist die Querrolle des Palastmuseums, Peking, „Leben in Fuchun Bergen nach Huang Gongwang“ aus dem Jahre 1487 . Die Rolle entspricht im Wesentlichen dem Ablauf von Huangs Meisterwerk siehe auch, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Sie ist auch nicht in Huang Gongwangs strukturbetonender Handschrift, noch in seiner Technik der mehrfachen Überarbeitung ausgeführt, sondern in der flüssigen Malweise von Shens Altersstil, der Wu Zhen viel verdankt, unterstützt von hauchzart aquarellierten Blau- und Rosatönen. Die Oberflächen des Geländes sind sanft aber kraftvoll modelliert in einem samtig wirkenden Vortrag, der selbst den schroffsten Hängen noch milde Rundungen verleiht, die an Dong Yuan und eben Wu Zhen erinnern: Huang Gongwang im Gewande Shen Zhous. In der Nachschrift erläutert Shen, dass Huangs Rolle ihm einmal gehörte, dass er sie dann aber verliehen und nie wieder zurückerhalten habe. Aus Trauer darüber und um den Verlust zu ersetzen, malte er sie aus dem Gedächtnis nach. Bedenkt man, dass das Original 6,37 Meter lang ist (Shens Rolle misst 8,55 m), das heißt, dass er Huangs Werk niemals ständig vor Augen gehabt haben kann, um es sich einzuprägen, so muss man schließen, dass Shen Zhous optisches Gedächtnis phänomenal gewesen sein muss. Es ist fast unglaublich, dass er die Vorlage bei seiner Nachschöpfung nicht vor Augen gehabt haben soll, so genau hat er deren Rhythmus und räumliche Disposition getroffen. Wenn auch nicht überall, so sind darüber hinaus eine Vielzahl von Details in verblüffender Übereinstimmung mit dem Original bis hin zur Anzahl oder Gruppierung von Bäumen oder der Biegung eines Astes.
Shens „reine“ Handschrift, also sein typischer Altersstil, den er vermutlich bereits in seinen mittleren Jahren zu entwickeln begann, steht Wu Zhen am nächsten, ist aber an keine unmittelbare Vorlage gebunden. Er zeigt sich unverstellt in den Albumblättern und Skizzen. Die Lavierungen sind saftig, der Strich kraftvoll, breit und vereinfachend. Wie Huang Gongwang verwandelt Shen Zhou Naturformen wie Bäume, Vegetation, Gesteinsstrukturen, Häuser und Menschen zu graphischen Kürzeln. Aber sie sind nicht mehr eingebunden in ein Konzept, das eine Gesamtschau bietet, eine Landschaft als Kosmos, sondern sie werden zu adäquaten Mitteln eines Landschaftskürzels. Der Blick des Malers ist fokussiert auf einen Landschaftsausschnitt, wie dies auch bei einigen Meistern der Zhe-Schule sichtbar wird. Es scheint, als zeige sich hier ein Charakterzug der Epoche: eine Verengung des Gesichtskreises, wie sie ein alle anderen Gesichtspunkte ausschließender Traditionalismus zur Folge hat. Die lokale Fixierung der Künstler und der weitgehend geschlossene Zirkel Gleichgesinnter mochten dabei verstärkend wirken. Beispiele für diese Sehweise sind wunderbar leicht hingeworfene Tuscheblätter mit Ansichten von Suzhou der Sammlung des Cleveland Museums . Man könnte das Kleinformat des Albumblattes für eine solche Ausschnitthaftigkeit verantwortlich machen, jedoch gilt sie grundsätzlich auch für die Querrollen. Deren Format bietet sich geradezu an für einen weiten Überblick, gleichsam die große Weltschau. Man denke beispielsweise nur an Querrollen eines Nord-Song-Meisters wie Xu Daoning siehe auch. Bei Shen Zhou fehlt das Visionäre gänzlich. Die ausgewählten Landschaftsmotive wirken zufällig, sie sind meist relativ nahe zu sehen, intim, beschaulich, gleichviel, ob sie in seiner lockeren, summarischen Handschrift oder etwa im eng geknüpften Stil Wang Mengs gemalt sind.
Dichter auf einem Fels
Ein Albumblatt der Nelson Gallery, Kansas City, repräsentiert mustergültig Shens reifen Stil . „Dichter auf einem Fels“ stellt die kleine Gestalt eines Mannes mit Wanderstab dar, der auf einem schräg ansteigenden Felsplateau steht, das senkrecht abfällt. Im Abgrund wallen Nebelwolken, rechts in einer Schlucht schaut hinter einem schräg abfallenden Hang und einer Baumgruppe ein Kloster hervor. Den Hintergrund schließen die Silhouetten einiger flächig lavierter Berge ohne Umrisszeichnung. Es ist ein wunderbar lebendig gemaltes Blatt, locker, leicht, fließend und unangestrengt niedergeschrieben. Die malerische Zeichnung dominiert. Für Bäume, Gebäude, Felsen und Figur ist der gleiche breite, saftige Pinselstrich angewendet in wechselnder Tönung und Dichte. Die modellierenden Pinselschläge, aus denen sich Felsen und Bäume, Buschwerk und Gebäude bilden, werden zu dynamischen Kräften, die sich in Form von Strukturströmen im Bildzentrum verdichten. Und dennoch entsteht nicht der Eindruck von Unruhe: wie selbstverständlich sind diese Kräfte zum Ausgleich gebracht. Es ist ein entscheidendes Merkmal dieser Kunst: Aufhebung gegensätzlicher Spannung, um zu Ausgewogenheit und innerer Ruhe zu gelangen. Unter der Hand eines Nord-Song-Meisters wäre der gleiche Landschaftsausschnitt ins Monumentale gesteigert worden. Bei Shen Zhou erhält er einen miniaturhaften Charakter. Einmal durch die skizzenhafte, breitlinige Vortragsweise, besonders aber durch die Figur auf dem Fels, deren Größe im Verhältnis zur Landschaft diese auf Spielzeugdimensionen reduziert. Kleine Gestalten dieser Art, nach Strichmännchenmanier mit wenigen Linien zusammengezogen, finden sich in fast allen Landschaften Shen Zhous. Hier tritt noch ein - vielleicht unfreiwillig - humoristischer Zug hinzu: es scheint, als lese der Dichter sein eigenes Gedicht, das links vor ihm am Himmel schwebt. Shen Zhou schildert sich darin genau in der Szene, die er im Bild dargestellt hat. Die Naivität dieser Darstellungsweise, die uns in allen Bildern des „reinen“ Shen-Stils entgegentritt, erinnert an Illustrationen von Kinderbüchern.
Diese Naivität, die ungekünstelte Einfachheit und Direktheit, wie sie sich im Malvortrag aussprechen, schienen den Kern seines Charakters auszumachen. Diese Eigenschaften, die unmittelbar aus den Bildern sprechen, sind wohl auch die Ursache ihrer Liebenswürdigkeit und Wärme. Aber die Welt dieser Bilder ist lebensfern. Es ist eine vorgestellte Welt, trotz der vielen Studien nach dem Leben. Es ist eine Welt der Phantasie, des Märchenhaften. Sie gewinnt „Wirklichkeit“ allein im Bild, in der Beziehung der Formen untereinander, in der Handhabung der bildnerischen Elemente. Diese Bilder scheinen ihre innere Harmonie aus dem Fehlen existenzieller Problematik zu beziehen.
Shen Zhou war einer der einflussreichsten Künstler der chinesischen Kunstgeschichte und er wurde es vor allem nach seinem Tode durch die Wertschätzung anderer. Zweifellos war er ein Künstler von hohem Rang. Aber entsprang die Bewunderung der chinesischen Kunstkritik für Shen Zhou nicht eher einer Ideologie des Literatentums, dessen idealer Vertreter er war, als einer wahrhaft alles überragenden künstlerischen Leistung?
Wen Zhengming
Die andere dominierende Figur der Wu-Schule war Wen Zhengming siehe auch. Er stellte den intellektuellen Gegenpol zu Shen dar: war dieser von gefühlsbetonter Wärme, stimmungsvoll und lyrisch in seiner typischen Ausdrucksform, so war Wens Werk mehr vom Denken bestimmt, strenger, architektonischer. Seine Bilder sind durchdachter und geplanter, das Zufällige wird ausgeschlossen. Dabei vernachlässigt er nicht die poetische Seite der Kunst, doch kommt sie eher in der Motivwahl und in den beigefügten Gedichtzeilen zum Ausdruck. Sein Stil war vielgestaltiger und differenzierter als der seines Lehrers Shen Zhou, von dessen Vorbild er sich bald löste. Seine Geistesverwandtschaft mit Zhao Mengfu - die vielseitige Bildung und der Traditionalismus - seine Bewunderung für den Yuan-Meister, führten ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit dessen Werk. Und ebenso setzte er sich mit den Vier Großen der Yuan auseinander, aber auch mit Süd-Song-Malern wie Li Tang und den frühen Meistern des 10. Jahrhunderts. Jedoch kopierte er sie kaum wörtlich, sondern suchte das Wesentliche ihrer Aussage zu erfassen, indem er sie in seiner Weise interpretierte. Dabei arbeitete er in verschiedenen, dem jeweiligen Vorwurf angemessenen Stilen. Unvermeidlich tritt auch bei ihm das zeittypische Phänomen der bewussten Stilschichtung in einem einzigen Werk auf.
Flusstal mit Fischerhütten
Ein Beispiel dafür ist eine Querrolle im Britischen Museum: „Flusstal mit Fischerhütten“, die Wen mit siebzig Jahren malte . Das Bild entstand nach einer Rolle Shen Zhous, welche dieser wiederum nach einem Original Wu Zhens angefertigt hatte. Zwar griff Wen den breiten, saftigen Pinselduktus der beiden Meister auf, doch scheint auch hier in der ausgeprägten Differenzierung der Bäume und Blattstrukturen seine Handschrift hindurch. Es sind ja immer wieder Baumcharakterisierungen, worin Wen Zhengming seinen persönlichsten Ausdruck fand. In allen seinen freien Landschaften herrschen sie vor und prägen als Individuen oder Gruppen wesentlich Bildaussage und Bildstruktur.
Einsamer Wanderer in einem Herbstwald
Eine entscheidende Rolle spielen Bäume auch in einem schmalen Hochformat des Östasiatiska Museet Stockholm, worin ein einsamer Mann mit Wanderstab und in langem Gelehrtengewand im Begriff ist, ein kahles Waldstück zu betreten: „Wanderer in einem Herbstwald“ . Wo die menschliche Figur in Wens Bildern erscheint, ist sie differenzierter dargestellt und mit feineren Linien, als bei Shen Zhou. Die Motive sind die gleichen: Gelehrte in ihren Hütten oder unter Bäumen im Gespräch, Fischer, Wanderer. Die Figuren mögen den Blick auf sich lenken, niemals aber dominieren sie. So auch hier. Die kleine Gestalt, von hinten gesehen, fungiert als Einführung in den Bildgedanken: ein Weg, der durch einen Wald führt. Auf ihm kann der Blick des Betrachters das Bild durchwandern, nicht anders, als es bereits die frühen Landschaftsmeister handhabten, wenn sie den Blick durch das Bild führten. Typisch dafür ist das konventionelle Motiv des Stegs über einen Bachlauf unten rechts, über den man in das Bild eintritt. Die magische Wurzel dieses Moments ist auch hier noch nicht verloren gegangen. Erinnert sei dabei an den Tang-Meister Wu Daozi, von dem erzählt wird, er sei in sein eigenes Bild eingetreten und darin verschwunden siehe auch. Der Weg führt entlang dem Bachlauf im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch und verschwindet ganz plötzlich nach einer geringen Wegstrecke, noch klar erkennbar, hinter einem Stamm, ohne dass deutlich wäre, wohin.
Die Komposition wurde zum Anlass genommen, Wen Zhengming die Lösung eines sogenannten „Raumproblems“ zu unterstellen, das gar nicht in seinem Blickfeld lag. Die angebliche Bewegung in die Tiefe entsteht lediglich für eine auf perspektivisches Sehen eingestellte Wahrnehmung siehe auch, bildnerisch ist sie nicht vorhanden. Es ist eine Bewegung in der zweiten Dimension, im Bild also, und für die Vorstellung durchaus nachvollziehbar. Dass der Wanderer in die Ferne zieht, ist ein literarischer Gedanke, der vom Motiv geweckt wird, nicht von einem im Bilde dargestellten Tiefenraum. Wäre er auch nur im Ansatz vorhanden, so sorgte schon das dichte Geflecht der Baumkronen dafür, die das Bild in seiner ganzen Breite ausfüllen, dass jeder Durchblick in eine Ferne verstellt wird. Hervorzuheben ist die strukturelle Klarheit des Bildes. Sie gewährt Durchsicht zwischen den Baumstämmen und gibt dadurch den Blick frei auf den Waldboden, der zusammen mit dem kahlen Astwerk der Wipfel eine dichte Textur bildet. Die gleiche Vorgehensweise zeigt sich in einem ähnlichen Werk, der Hängerolle „Winterliche Bäume“ des British Museums. Auch hier windet sich ein Wasserlauf durch einen Wald aus knorrigen, kahlen Bäumen und verschwindet zwischen den Stämmen . Weder in diesen noch in einem anderen Werk Wen Zhengmings ist eine Bemühung um realistischere Raumdarstellung zu finden. Insofern gibt es bei ihm auch keinen Traditionsbruch. Bei dem gewaltigen Einfluss Wen Zhengmings auf die nachwachsenden Künstlergenerationen wäre ein solch vermeintlicher Schritt aus den traditionellen Prinzipien der chinesischen Malerei nicht ohne Folgen geblieben.
Alte Bäume und kalter Wasserfall
Wie sehr Wen einer Raum- oder Tiefenillusion entgegenwirkte, die ja von den Süd-Song in bestimmten Grenzen angestrebt worden war, zeigt besonders deutlich die Hängerolle „Alte Bäume und kalter Wasserfall“, datiert 1549, im Nationalen Palastmuseum, Taipei . In diesem Meisterwerk seines Altersstils, Gegenstück zu den „Sieben Wacholderbäumen“ siehe auch, hat Wen alles getan, eine die Kontinuität der Bildstruktur unterbrechende Tiefenwirkung zu tilgen. Dichtgedrängt windet sich eine scheinbar wirre Baumwildnis in einem schmalen Hochformat empor bis fast zum oberen Bildrand, wo gerade noch genügend Raum gelassen ist für einige Textzeilen. Es herrscht eine nahezu raumlose Enge. Bäume, Wurzeln und Felsen bilden ein dichtes Flechtwerk. Trotz ihrer grotesken Windungen, welche eine Dynamik von bizarrer Phantastik entwickeln, sind die Wacholderbäume und die mächtig aufragenden Zedern nicht raumgreifend, ja nicht einmal plastisch dargestellt. Um so größerer Wert ist auf die überzeugende Wirkung des Organischen gelegt. Rinde und Holzmaserung folgen dem verdrehten Wachstum von Ästen und Wurzeln. Sie sind ebenso prägnant gegeben wie die deutlich voneinander unterschiedenen Punkt- und Strichmuster des Blattwerks in hellen und dunklen Grüntönen. In Holz und Gestein herrschen Ocker und Braun vor. Ganz nahe an das Baum- und Wurzelgeflecht herangerückt ist die senkrechte Felswand, die bis hinauf zu dem kleinen Stück freigelassenen Himmels reicht. Sie bildet eine enge Schlucht, die jeden Fernblick verstellt. In langgezogenem Sturz fällt eine Wasserkaskade in die Tiefe, wo sie als Wildbach unter Wurzeln und Astwerk hervorschäumt.
Trotz präziser Detailgenauigkeit ist das Ganze mit kraftvoll-lebendiger Vehemenz und einer Sicherheit des Strichs gemalt, die den großen Kalligraphen verrät. In der für ihn typischen Strenge ist auch hier, wie auch sonst in Wens Landschaften, keinerlei Atmosphäre zugelassen. Demzufolge ist auch großflächiges Lavis aus dem Bild verbannt. Es sprechen die exakt definierten Formen, die mit sparsamer Zeichnung und oft mit trockenem Strich umrissen sind. Lavierung dient zuweilen nur dazu, kleinere Zonen zusammenzufassen, etwa um den Lokalton eines Felsen von seiner Umgebung abzuheben, also, um für größere Klarheit zu sorgen. Und Klarheit ist es auch, die dieses Bild durchwirkt: eine erstaunliche bildnerische Ordnung in der scheinbaren Wirrnis des verschlungenen Geästs und seinem Verhältnis zur Felswand. An keiner Stelle herrscht Ungewissheit, wo sich Pflanzenwuchs, wo sich kristalliner Fels befindet. Die Durchsichtigkeit ist überall gewahrt. Indem er Hintergrund und Vordergrund fast distanzlos zusammenrückt, hat Wen Zhengming ein dichtgefügtes Relief geschaffen, das seine Transparenz bewahrt dank des geradezu konstruktiv durchdachten Bildbaus. Verblüffenderweise ist es das fließende Element, das diesem Bau Festigkeit verleiht: die vertikal herabfallende Kaskade fungiert als eine aus der Mitte versetzte Achse, als Rückgrat des Bildorganismus.
Im Auftürmen dicht verflochtener Strukturen in einem engen Bildraum tritt ein alter Meister zum Vorschein, dessen Traditionslinie Wen hier aufnimmt: Wang Meng. In der Nahsicht und der Ausschnitthaftigkeit der Bildanlage zeigt sich das Zeittypische. Wen Zhengming hat in dieser Verschmelzung von Traditionsbewusstheit und Zeitgenossenschaft ein Werk geschaffen, das in seiner Art einzig dasteht. Er hat einen Naturausschnitt in einen Organismus verwandelt, der aus sich selbst lebt, unberührt eigenen, unveränderlichen Gesetzen folgend wie die Natur selbst.
Der Traditionalismus Wen Zhengmings war frei von jener dogmatischen Erstarrung, die oft mit dieser Geisteshaltung einhergeht und die sich zu seiner Zeit mehr und mehr ausbreitete. Für ihn bedeutete er eine tief empfundene Verehrung von Werten und Leistungen der Vergangenheit. Seine innere Bindung an die alten Meister brachte er in einem Kolophon zum Ausdruck: „… aber wie könnte ich den Anspruch erheben, etwas so Schönes gemacht zu haben wie der verehrungswürdige Alte Shi (Shen Zhou?) So wie wir auf die Vergangenheit sehen, so sieht die Vergangenheit auf uns Heutige. Ich fühlte diese Wahrheit tief, als ich an meiner Arbeit war“. In diesem Sinne wirkte er auch in die Zukunft. Obwohl sein komplexes Werk sich einer leichten Nachahmung verschloss, war sein Einfluss als Lehrer und Vorbild nicht geringer als der Shen Zhous. Die Verehrung, die ihm selbst zuteil wurde, galt seinem Werk, nicht zuletzt aber auch der Tatsache, dass er den vollkommenen Gelehrten-Gentleman verkörperte.
Wen Boren
Zu Lebzeiten Wen Zhengmings versammelten sich alle Talente Suzhous um ihn, und nach seinem Tode bildete die Wen-Familie einen Mittelpunkt des Literatentums. Sie brachte bis ins 18. Jahrhundert zwanzig Poeten, Maler und Kalligraphen hervor. Aber nur der auf Wen Zhengming folgenden Generation entstammten überdurchschnittliche Maler: sein zweiter Sohn Wen Jia (1501-1583) und sein Neffe Wen Boren (1502-1575). Beide wurden Schüler des großen Meisters, und jeder von ihnen entwickelte in späteren Jahren einen Stil von einer gewissen Eigenart. Wen Boren scheint das stärkere Talent gewesen zu sein. Während von Wen Jia Bilder bekannt sind, die durchaus Originalität besitzen, aber mit einer gesuchten, kindlich wirkenden Naivität gemalt sind, zeigt Wen Boren einen komplizierten, mit hohem technischen Können erreichten Stil.
Scheinbar führte er ebenfalls das Leben eines unabhängigen Literaten ohne Beamtenstellung. Doch im Unterschied zu seinem Onkel war sein soziales Verhalten äußerst unangepasst. Wegen seines Jähzorns und seiner Streitsucht war er bei den Bürgern Suzhous unbeliebt und er musste deshalb auch einmal ins Gefängnis. Danach soll er sich gewandelt haben. In der Malerei betrachteten ihn seine Zeitgenossen als seinem Onkel ebenbürtig.
Wohnstatt der Unsterblichen zwischen Strömen und Bergen
Die Hängerolle „Wohnstatt der Unsterblichen zwischen Strömen und Bergen“ von1531 des Metropolitan Museums, New York, lässt die Wesensmerkmale seiner Kunst erkennen . Auf der langen Hängerolle ragt ein Gebirgsstock bildfüllend fast bis zum oberen Bildrand, das alte Muster des zentralen Bergindividuums. Im Vordergrund, tief unter dem Betrachter, tritt man rechts in das Bild ein und befindet sich zwischen Bäumen und Büschen an einem Seeufer. Der See breitet sich links aus und wird von Wasserfällen und Wildbächen gespeist, die aderngleich sich von hoch oben herabschlängeln. Die skurril geformten und durchlöcherten Felsen, welche im Wasser und am Ufer liegen, sind Musterexemplare jener Zierfelsen, die gern in Landschaftsgärten aufgestellt wurden. Rechts oben schaut ein weiterer See oder Fluss hervor. Zwischen diesen diagonal angeordneten Gewässern ist die Gebirgslandschaft aufgetürmt. Über der fernen Wasserfläche schließen einige aus dem Dunst steigende zuckerhutförmige Zinnen den hohen Horizont ab. Überzogen von Bäumen, Felsen, Wasserfällen, gewundenen Pfaden windet sich der Bergleib empor. Dazwischen erscheinen winzige Brücken, Häuser und Tempel aus der Vogelperspektive. Über die ganze Landschaft verteilt kann man kleine Menschenfiguren erkennen: Bootsmänner, Wanderer, Leute im Gespräch. Oberhalb der bewohnten Zone, im unzugänglichen, steilen Fels, ziehen sich Wälder an den Klüften entlang bis hinauf zum nebelumfangenen Doppelgipfel. Dort schäumt, von ganz oben kommend, ein Sturzbach herab, in der Realität eine Unmöglichkeit.
Das Bild enthält alles, was in der großen Landschaftstradition der Nord-Song und Yuan überliefert ist - und dennoch ist es etwas gänzlich anderes. Die auf den ersten Blick beeindruckende Monumentalität des Zentralgipfels wird konterkariert von der den Berg überwuchernden Kleinteiligkeit. Nur die Wasserflächen und einige Felsspitzen sind mit nebelevozierender Zartheit laviert, wobei der Maler nicht darauf verzichtet hat, das Wasser im Vordergrund mit einer altertümlichen Wellengraphik zu überziehen, wie man sie beispielsweise bereits bei Gu Kaizhi findet, aber auch bei Wang Meng. Und Wang Meng ist es auch, der bei der ungemein fein und dicht gewebten Textur des Bildes Pate gestanden hat, wie auch bei der Kompositionsidee, dem Auftürmen der Landschaftsformationen in einem hohen, engen Rahmen. Mit unendlicher Akribie und Detailverliebtheit ist die Bildoberfläche „durchgehäkelt“, ohne dass irgendeine Stelle totgemalt wäre. Es ist eines jener Bilder, in welchen man auf Entdeckungssuche umherspazieren möchte und die immer neue Sehvergnügen bereiten. So muss auch die Wirkung der Malerei Wen Borens auf die Zeitgenossen gewesen sein. In der Vielgestaltigkeit der Baumschilderungen ist die Schulung Wen Zhengming unübersehbar. Aber nicht einmal dieser hat seine Bäume so eng verflochten, dass sie wie hier die überwiegende Landschaftsoberfläche bilden. Was Wen Boren von seinen Vorbildern unterscheidet, ist die Wirkung des Unwirklichen. Suchte Wen Zhengming noch ein Stück Natur elementar zu erfassen und Wang Meng ihr Wesenhaftigkeit zu verleihen, so ist Wen Borens Natur überzogen vom Schleier des Märchenhaften. Auch seine Natur, wie schon die Wang Mengs, ist eine erfundene, das zeigt schon die Komprimierung so vieler inhaltlicher Einzelheiten und ihre oft unwahrscheinliche Platzierung. Vor allem aber ist es die alles durchwirkende, pastellzarte Farbigkeit, deren duftige Leichtigkeit ein Reich der Phantasie heraufbeschwört und deren Skala sich von der üblichen Tonalität der chinesischen Malerei abhebt: zartes Rosa, Blau, Grün und Grau, Tupfen von Orange und Rot. Dazwischen in dichten Texturen Tuschetönungen von Braun bis Schwarz.
Seine technische Brillanz bewahrte Wen Boren vor einer allzu deutlich aufgesetzten Naivität, andererseits verzichtete er auf demonstrative Effekte malerischer Geschicklichkeit, welche von den Literatenmalern abgelehnt wurden. In seiner noch weitergehenden Entfernung von einem wie immer gearteten Natur- oder Wirklichkeitsbegriff als frühere Maler war er ein typischer Vertreter des wen ren der späten Ming-Zeit.
Lu Zhi
Unter den Schülern Wen Zhengmings war Lu Zhi (1496-1576) entschieden das poetischste Talent. Als Sohn einer vornehmen Familie in Suzhou geboren, führte er das Leben eines unabhängigen Literaten, nachdem er die erste Beamtenprüfung abgelegt hatte. Offenbar konnte er es sich leisten, ungestört von Alltagssorgen sich dem Studium der Klassiker zu widmen, der Dicht- und Schreibkunst. Und auch die Malerei betrieb er als eine der Künste eines gebildeten Mannes zu seinem und seiner Freunde Vergnügen. Er verschenkte seine Bilder nur an Menschen, die er mochte und lehnte jede Zahlung ab. In seinen späteren Jahren lebte er zurückgezogen in einem Landhaus in den Bergen südlich von Suzhou, wo er zuweilen Gäste zu geselligem Zusammensein empfing, ungebetene Besucher, vor allem solche in hohen Stellungen, ließ er jedoch nicht ein. Diese Lebensweise entsprach ganz den Idealvorstellungen von einem einsiedlerischen, etwas kauzigen Gelehrten. Sein Charakter wird als generös beschrieben: er ließ einen Ahnentempel errichten und verschenkte sein Vermögen an seinen Bruder. Liebevoll pflegte er einen Garten mit seltenen Blumen. Von daher gewann er auch die Motive seiner weithin bekannten und geschätzten Blumen- und Vogelbilder.
In der Landschaftsmalerei folgte er der Song-Tradition. Doch seine aufgetürmten Felskulissen besitzen nicht die Solidität und monumentale Kraft der Vorbilder, sondern sie bauen sich auf aus einem feinen Liniengespinst, dessen ruckartig abgesetzter, kantiger Duktus etwas Fragiles annimmt. Das kalligraphisch aufgefasste Lineament hat weniger die Darstellung eines Gegenstandes zum Ziel, es ist eher abstrahierender Selbstzweck. In Übereinstimmung mit den Idealen der Wu-Schule ist die Farbe zurückgenommen und dient als Begleitinstrument der Zeichnung, die aus zarten hellbraunen bis rötlichen Tönen besteht mit sparsam eingesetzten dunkleren Akzenten.
Abschied in Hao
Dieser sehr persönlichen Malweise stehen Arbeiten gegenüber, worin Lu Zhi den Stil Ni Zans variiert. Ein Bild, in welchem Ni Zans Grundkonzept erkennbar bleibt, das Lu zugleich aber in seine eigene Bildsprache übertragen hat, ist die Hängerolle „Abschied in Hao“ im Palast Museum, Peking . Eine weite Wasserfläche erstreckt sich bis zu einigen Bergzügen im oberen Bilddrittel. Den Vordergrund nehmen baumbestandene Landzungen ein. Die Bäume sind jedoch nicht in der Art Ni Zans gemalt, sondern erinnern durch ihre sorgfältig hingetupften Blätter eher an Wen Zhengming, nur sind sie einfacher und weniger differenziert. Im Mittelgrund schieben sich von rechts Landzungen ins Bild, auf denen sich Häuser drängen - einige auf Pfählen im Wasser - dazwischen einige Baumgruppen und dahinter das Ende einer Stadtmauer mit einem Torturm. Das Erzählerische ist ganz der Landschaft untergeordnet. Die beiden Figuren, auf die sich der Bildtitel bezieht, sind wie auf einem Suchbild versteckt, so winzig sind sie gezeichnet, ebenso wie das Segelboot in Ufernähe. Das Gedicht des Malers rechts oben nennt den Anlass des Bildes: Abschied vom jüngeren Bruder. Die linke Aufschrift stammt von Wen Jia.
Der Bildaufbau entspricht also einer Ni Zan Komposition, ebenso einige bildnerische Mittel. So sind alle Horizontalzüge - Berge, Landzungen, Uferlinien - wie auf einer schiefen Ebene leicht nach links gekippt, wodurch der Eindruck von Instabilität und Schwerelosigkeit entsteht. Und wie bei Ni Zan sind die „Moospunkte“ - hier allerdings als kleine Vertikalstriche - auf allen Bildebenen in gleicher Weise eingesetzt, ohne sich in der Ferne zu verkleinern. Ein dekoratives Mittel zur Belebung der Bildstruktur, das zugleich aber Nähe und Ferne wieder zusammenrückt. Die Herbheit und Kühle Ni Zans ist verwandelt in eine lyrisch-zarte Stimmung durch die duftige Malweise Lu Zhis. Die leichte, behutsam getönte Zeichnung suggeriert Luftigkeit und Weite, ohne sie wirklich darzustellen. Ein konturloser, zartblau lavierter, fernster Höhenzug unterstützt diese Wirkung. Aber die Uferberge, die den hohen Horizont sperren, sind ebenso strukturiert wie die Landzungen und die kantigen Stein- und Bodenformationen des Vordergrundes, was sie optisch wieder auf einer Ebene vereinigt. Das Unwirkliche, Schwebende, Märchenhafte dieser Malerei entsteht nicht allein durch die delikate Zeichnung und die hauchzarten Lavierungen, sondern nicht zuletzt durch eine Vereinfachung und scheinbare Naivität in der Darstellung der Gegenstände, die an manche Werke Shen Zhous erinnern.
Eine in ihrem Ablauf fast identische Komposition zeigt die Hängerolle „Rudern unter aufklarendem Herbsthimmel“ des Art Instituts, Chicago. Die Bildmittel, wie die lyrische Stimmung, sind die gleichen. Und es ist die Landschaft, die diese Stimmung trägt. Die titelgebende Gestalt in ihrem Kahn verschwindet fast in ihrer Winzigkeit gegenüber der übermächtigen Natur, obwohl sie im Vordergrund erscheint .
Zhou Chen
Als den dritten bedeutenden Lehrer im Suzhou des 15. und 16. Jahrhunderts nach Shen Zhou und Wen Zhengming kann man Zhou Chen bezeichnen, denn zwei der „Großen“ der Ming-Zeit waren seine Schüler: Tang Yin und Qiu Ying siehe auch. Er lässt sich keiner der zeitgenössischen Schulen zurechnen, denn seine künstlerischen Interessen waren vielfältig. Als Berufsmaler beeindruckte ihn die Professionalität von Malern der Süd-Song Akademie, allen voran die Li Tangs. Aber auch manches Stilmittel von Nord-Song Meistern wie Fan Kuan, Li Cheng und Guo Xi fand Eingang in sein Werk. Und er befasste sich mit Meistern seiner Epoche wie Wu Wei und Dai Jin.
Das Nordmeer
Dass ein solcher Eklektizismus einerseits und künstlerische Originalität, Phantasie und Erfindungsgabe andererseits nicht einander ausschließen, beweist die Querrolle „Das Nordmeer“ in der Nelson Gallery of Art, Kansas City . Man ist versucht, die ungewöhnliche Komposition nach westlicher Sehweise zu lesen, also von links nach rechts, da die Hauptmasse von Felsen und Bäumen, sozusagen der schweren, konkret fassbaren Bildelemente, in der linken Bildecke verdichtet ist, während nach rechts hin Baumsilhouetten mit dichtem Blattwerk ausflattern. Von rechts stürmt die aufgewühlte See heran. Im linken Bilddrittel ist ein altes und beliebtes Thema aufgegriffen: Besuch bei einem Freund. In Begleitung eines Jungen, der eine Pipa trägt, nähert sich von links über einen schmalen Steg ein Gelehrter einem Gehöft hoch über dem Meer. In einem Pavillon darüber wartet der Freund. Die Schreibutensilien des Literaten sind trotz ihrer Winzigkeit auf dem Tisch deutlich sichtbar. Auf einer Felsplattform oberhalb steht eine Aussichtshütte. Dieser Teil des Bildes atmet die Stille und Unversehrtheit einer Naturidylle ganz nach der Art Li Tangs: aus einer Felskluft quillt ein Wasserfall, der unter dem Steg als Wildbach hervorsprudelt. Grotesk gewachsene Bäume krallen ihr Wurzeln ins Gestein. Die dichte Felsstruktur ist mit den typischen „Axthieb“-cun Li Tangs gemalt, jedoch kontrastreicher. Äste und enggetupftes Blattwerk erinnern an Fan Kuan. Der Mittelteil des Bildes wird von detailliert gezeichneten Bäumen beherrscht, die, phantastisch verkrümmt, sich nach rechts neigen.
Die Besonderheit des Bildes aber ist die Darstellung des Meeres. Es nimmt das rechte Bilddrittel ein und den Hintergrund, wo es sich mit Wolken und Dunst verbindet. Zhou Chen hat auf diese Weise einen ungewöhnlichen und spannungsvollen Bildrhythmus geschaffen, sozusagen „gegen den Strich“. Die von rechts kommende Bewegung des im Gegensatz zu den Felsen „substanzlosen“, „amorphen“ Elements liegt auf der zweiten Bildebene, der des Hintergrundes. Es brandet gegen die festen Formen von Felsen, Gebäuden und Bäumen im Vordergrund an, bis es von den aufgetürmten Felsmassen links aufgefangen wird. Hier bringt die ruhige Gegenbewegung der Bäume, des Wildbachs und der beiden Wanderer die dynamischen Kräfte zum Ausgleich. Nicht allein in einem so eigenwilligen Bildaufbau, sondern auch in der Art und Weise, wie er die aufgepeitschten Fluten darstellt, zeigt Zhou Chen die gleiche Originalität wie bei seinen Menschendarstellungen siehe auch, nur ins Phantastische gewendet. Seine unrealistische Auffassung erweist sich schon in der Seltsamkeit, dass die Bäume sich nicht in Windrichtung biegen, sondern den herantobenden Wassermassen entgegengeneigt sind, bildnerischer Ausdruck ihres Widerstands. Und auch die Wellen folgen nicht natürlichen Bedingungen: sie überschlagen sich nach verschiedenen Seiten und bilden so ein lebendig bewegtes Ornament, das einen wild schäumenden Strudel überzeugend darstellt. Dieser Wildheit wird jedoch bildnerische Ordnung verliehen, indem jede Welle sorgfältig mit parallel geschweiften Linienmustern überzogen ist, wie es schon in der Song-Malerei vorkommt, und indem Spritzer und Tropfen der Gischt, einzeln dargestellt, sich dennoch zu geschlossenen Formen fügen. Inmitten des Wasserwirbels ist ein Auge erkennbar. Von daher schließen sich die Wellenornamente zu einem Meeresungeheuer zusammen, das die Form eines Krokodils oder eines Drachens annimmt und die Wellen nach allen Seiten peitschend gegen das Festland anstürmen lässt: die Personifizierung des gefahrvollen Nordens, des Chaos und der Naturgewalt.
Tang Yin
Vermutlich wäre nicht nur der Lebensweg Tang Yins siehe auch anders verlaufen, sondern auch seine künstlerische Entwicklung, wäre ihm nicht die demütigende Rückstufung in ein niedriges Amt widerfahren nach der glänzend bestandenen Staatsprüfung und dem darauffolgenden Skandal. Denn er hätte dann ohne die Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt durch Malerei zu verdienen, als angesehener Gelehrter und Beamter wahrscheinlich den Weg der wen ren-Malerei verfolgt, wie er ihn unter Einfluss Shen Zhous und Wen Lins, des Vaters seines Freundes Wen Zhengming, bereits eingeschlagen hatte. Das würde vor allem bedeutet haben, dass er nur dann zum Pinsel gegriffen hätte, wenn ihn die Inspiration dazu anregte und nicht die nackte Not. Mit der Möglichkeit, Kunst allein als Muße zu betreiben, wären ihm vermutlich mehr Werke gelungen, die vom „Lebensatem“ durchhaucht sind. Dies ist bei weitem nicht bei allen Bildern der Fall, die seine Signatur oder seinen Stempel tragen. Dennoch befinden sich alle, die man ihm zutrauen darf, zumindest auf einem hohen technischen und kompositionellen Niveau dank der Professionalität, mit der sie gemacht sind.
Es war Zhou Chen, der ihn auf diesen Weg führte, indem er ihm die Augen öffnete für die Qualitäten der Song-Akademie in jener Übergangsperiode zwischen Nord- und Süd-Song, für welche Li Tang siehe auch repräsentativ ist. So finden sich auch im Werk Tang Yins Strenge und Monumentalität der Nord-Song und stimmungshaft-atmosphärische Züge der Süd-Song nebeneinander, zuweilen auf dem gleichen Bild. In seinem Oeuvre wechseln Stil und Handschrift derart, dass kaum von einer alle Werke verbindenden, typischen Arbeitsweise gesprochen werden kann, noch eine kontinuierliche Entwicklung deutlich wird. Er beherrschte die akademischen Traditionen der Süd-Song, was manches seiner Bilder in die Nähe der Zhe-Schule rückte, etwa in der abwechslungsreichen Behandlung von Oberflächenstrukturen. Und er konnte ganz in der Art und Weise der Wu-Meister arbeiten mit klarer, sensibler Zeichnung und zurückhaltender Farbigkeit. Seine flatterhafte Lebensweise spiegelt sich nirgends als besondere Nachlässigkeit, davor bewahrte ihn seine außerordentliche Könnerschaft.
Gelehrter in einer Sommerlandschaft
Die signierte Hängerolle „Gelehrter in einer Sommerlandschaft“ (Ontario Museum, University Toronto) ist keines seiner besten Werke, falls die Rolle überhaupt von seiner Hand stammt . Aber sie zeigt einige Charakteristika, die in einer Reihe seiner Landschaften auch bei unterschiedlichen Stilhaltungen auftreten. Es handelt sich um eine jener hochformatigen Monumentalkompositionen in der Tradition der Nord-Song Landschaft. Von rechts unten steigt ein baumbestandene, überhängende Felswand schräg nach oben an. Aus der dahinterliegenden Wolkenzone türmen sich hintereinander gelagerte Felsmassive, das höchste links oben, auf diese Weise die Diagonale betonend. Hoch oben stürzt aus einer engen Schlucht ein Wasserfall, der hinter den Wolken verschwindet und im Mittelgrund tief unten wieder auftaucht, wo er einen Wildbach speist. Im Vordergrund weitet sich der Bach zu einem kleinen See, der von einem flachen Felsdamm überquert wird. Hier verharrt die kleine Gestalt eines Gelehrten, der auf einen Wanderstab gestützt zur Felswand emporschaut. Im Gegensatz zu den kräftig konturierten Bäumen und Steinen ist er mit feinen, äußerst prägnanten Linien gegeben.
Obwohl die Monumentalität des Motivs sich an die Auffassung der Nord-Song anlehnt, liegt hier eine gänzlich andere räumliche Disposition vor. Der vordere Felshügel ist nahe gerückt und nimmt einen Großteil der rechten Bildhälfte ein. Die Baumkronen verdecken die hinteren Felsmassive weitgehend und beherrschen die Bildmitte fast vollständig. Anstelle der klaren Gliederung einer typischen Nord-Song Komposition in einen entfernter liegenden Vordergrund und einen übermächtig aufsteigenden Felsenberg als Hintergrund, findet sich hier eine enge Verflechtung der beiden wichtigsten Bildebenen statt. Und obwohl die Diagonalkomposition und die Nähe des Vordergrundes auf eine gewisse Tiefenwirkung zielen, werden sie auf diese Weise konterkariert. Die gleich dichte und gleichartige Behandlung der Strukturen des Vorder- und des Hintergrundes bewirkt eine ebensolche Aufhebung von Raumtiefe.
Darüber hinaus steckt in der Bildanlage ein typisches Süd-Song-Konzept: die „Eineck“-Komposition mit ihrem Diagonalaufbau. Nur dass eben der Hintergrund nicht im Dunst verschwindet - bis auf einige ferne Bergzinnen, die aber immer noch als Silhouetten sichtbar bleiben - sondern im Gegenteil herangerückt wird. Das traditionelle Bildmittel der Wolken- und Dunstzone, die zwischen Vorder- und Hintergrund liegt, ist hier in archaisierender Weise gestaltet: Die Wolken sind mit Konturen versehen. Und ebenso sind Wellen in die Wasserfläche des Vordergrundes gezeichnet, wenn auch sparsamer.
Eine solche Durcharbeitung der Oberflächen war offenbar ein besonderes Anliegen Tang Yins, denn es findet sich immer wieder in seinen Landschaften, im Unterschied zur allgemeinen Auffassung der Literaten-Künstler, die einen solchen technischen Aufwand für überflüssig hielten, ja ihn abschätzig beurteilten. Tang strebte auf diesem Wege eine Verfestigung der Formen an und damit die Rückgewinnung jener kraftvollen Monumentalität, die er an den Nord-Song Meistern bewunderte. Dem gleichen Ziel diente die kontrastreiche Ausspielung heller gegen dunkle Zonen. Dieses wirkungsvolle Mittel mochte aber auch Temperamentssache gewesen sein. Es scheint geradezu den wechselhaften Charakter Tang Yins zu spiegeln. Auch in dieser Rolle ist es effektvoll eingesetzt: helle Wasserflächen und Wolkenschleier gegen die dunklen Massen von Felsen und Bäumen. Deren markant vor- und rückspringenden Silhouetten, welche in die hellen Zonen einschneiden, ergeben insgesamt die Wirkung einer flackernden Unruhe, trotz der Härte der Einzelformen. Sie sind hier auch für Tang Yins Verhältnisse ungewöhnlich dicht gearbeitet. Innerhalb der Texturen von Stein, Holz und Laubwerk herrschen ebenfalls starke Kontraste vor. Die Felsstrukturen sind hier nicht mit Hilfe der „ca bi cun“ modelliert, also mit breitgedrücktem Pinsel und halbtrockener Tusche, wie sie Tang Yin gern angewendet hat und die ihm - durch Zhen Chou vermittelt - von der Malweise Li Tangs her bekannt waren. Vielmehr folgen hier kurze Strukturstriche dem Umriss der einzelnen Gesteinsbrocken, deren Konturen von tiefem Schwarz umfangen werden. Dadurch entsteht zwar Festigkeit und Härte in den Einzelformen, nicht aber die vermutlich angestrebte Plastizität. Das Gegenteil tritt ein: die so isolierten Teilformen fügen sich zu scheibenartigen Schichten hintereinander, sodass eine kulissenhafte Wirkung entsteht. Ähnliches gilt für die Bäume. Ihre Rinde ist mit den gleichen Strukturstrichen dargestellt wie die Gesteinsoberfläche, was Tang Yin in anderen Fällen sorgfältig unterscheidet. Trotz ihrer grotesken Verdrehungen und der klauenartigen Wurzeln, was ja an bewegte und lebendige Wesen gemahnen soll, wirken die Bäume nicht organisch gewachsen, sondern eher wie wirkungsvoll arrangierte Versatzstücke. Ihre unlebendige Sprödigkeit und Härte entsteht durch steife, kantige Konturen, die breit und tiefschwarz aufgetragen sind und durch betont wiederholte, schwarze Astlöcher. Ein Zug zur Manieriertheit wird hier manifest. Er wird vollends deutlich in den metikulös gezeichneten Kronen, worin jedes einzelne Blatt dargestellt ist, wobei helle und dunkle Zonen geschickt gegeneinander gesetzt sind. Das Blattwerk eines Baumes besteht aus waagerechten Linien, an welchen kleine Dreiecke nebeneinander aufgereiht hängen, wodurch eine geschlossene Textur entsteht.
Die Strukturbehandlung dieses Bildes ist so dicht, dass die Farbe zwangsläufig zurücktritt. Sie ist in anderen Werken Tang Yins substanzieller. Das alles hat nichts mehr mit gesehener Wirklichkeit zu tun. Das vorwiegende Interesse des Malers gilt den bildnerischen Mitteln, die er brillant beherrscht. Er führt uns eine konstruierte, keine erlebte Natur vor.
Die Gartenhütte des Yi An
Von ganz verschiedener Art, so als stamme sie von anderer Hand, ist die Querrolle „Die Gartenhütte des Yi An“, Palast Museum, Peking . Es ist nicht das intimere Motiv einer Gartenlandschaft, was diesen Unterschied ausmacht, sondern der Charakter des Vortrags.
Von rechts ragen einige Felsen ins Bild, dazwischen stehen Rhododendronbüsche, Bambus und zwei Kiefern. Es folgt die Gartenhütte, worin ihr Bewohner auf dem Boden sitzt, einen Fliegenwedel in der Hand. Seitlich ein flacher Tisch, worauf Bücher und ein Gefäß durch die Gitterstäbe des Fensters sichtbar sind. Links von der Hütte wachsen zwei knorrige Bäume, vermutlich Prunus, mit spärlichem, zart hingetupftem Blattwerk. Ein Ast ragt über die Gartenmauer, die hinter der Hütte hervortritt und sich diagonal nach links unten erstreckt. Die Mauer stellt eine Verbindung her zu einem Pflanzenmotiv, das auch für sich allein genommen gültig bliebe: ein Zierfelsen umgeben von Bambus und einer Bananenstaude. Jenseits der Mauer wachsen Bambus und Büsche, die nun schon im Dunst verschwinden.
Die Komposition ist oben und unten angeschnitten, das Ausschnitthafte betonend, wie das zur Ming-Zeit mehr und mehr üblich wurde. In lockerem, freiem Rhythmus entwickelt sie sich, die Motive zunächst rechts und am oberen Bildrand massierend, dann links unten, während darüber Inschrift und Stempel den Bildablauf beschließen. Dazwischen befinden sich große Leerflächen.
Die Zeichnung ist überaus delikat, an manchen Stellen hauchzart, zum Beispiel an der Mauer, im entfernteren Astwerk oder den dunstverhangenen Bambusstauden. Die Strichstärke wechselt von breiteren, weich fließenden Linien, etwa in den Baumkonturen, bis zu haarfeinen Pinselzügen, etwa in der Figur des Gelehrten oder den Rippen der Bananenblätter. Dabei ist die Präzision selbst kleinster Einzelheiten kaum zu übertreffen. Das Erscheinungsbild der Oberflächen ist sorgsam unterschieden. So sind die Felsstrukturen in differenzierten Tonabstufungen mit halbtrockener Tusche über die leicht getönte Untermalung gerissen und die Rinde der Kiefern ist in ihrem schuppenartigen Charakter erfasst. Was an dieser Rolle aber besonders besticht, ist die Lebendigkeit und der atmende Fluss des Vortrags, der zugleich auf Genauigkeit im Detail nicht verzichtet. Sogar gerade Linien, wie an Mauer und Hütte und besonders an den knorrigen Gitterstäben, sind voll vibrierenden Lebens. Betont dunklere Akzente begleiten in freiem Rhythmus den Bildablauf, ohne an bestimmte Gegenstände oder ihre Position im Bildraum gebunden zu sein. Felsen im Hintergrund oder vorne, Bambus oder Äste können die Träger dieser Akzente sein. Ihre Wirkung wird erhöht durch die zarte Farbigkeit, die dagegen gesetzt ist und wie eine Begleitmelodie das Bild durchzieht.
Trotz seiner Detailgenauigkeit handelt es sich auch hier nicht um ein der Natur abgeschautes Bild, sondern um eine Idealvorstellung vom Leben und dem Umfeld eines Gelehrten, worin Tang Yin seine ganze Meisterschaft in der Beherrschung der Bildmittel ausspielt und zugleich nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Machart Stil und Geschmack der Literatenkunst trifft. Nur eben mit ungemein professioneller Virtuosität, die sich absetzt von der oft absichtsvollen technischen Unbeholfenheit der Literaten, denen er hier sozusagen zeigt „was eine Harke ist“.
Tang Yin hat eine Reihe ähnlicher Kompositionen geschaffen. Eine davon, die „Strohhütte in den Westlichen Bergen“ beginnt ebenfalls rechts mit der von Bäumen und Felsen umstandenen Hütte und ihrem Bewohner und entwickelt sich nach links in eine dunstige Ferne. Eine weite Wasserfläche erstreckt sich bis zu einem jenseitigen Ufer, vor dem zwei winzige Boote segeln .
Qiu Ying
Tang Yin war nicht nur Maler, sondern auch ein Mann der Literatur und Poesie. Sein jüngerer Zeitgenosse Qiu Ying siehe auch, ebenfalls Schüler Zhou Chens, war ausschließlich Maler. Seine bescheidene Herkunft erlaubte ihm keine höhere Bildung. Dennoch gewann er die Hochachtung der Gelehrten und der Kunstkritik. Wie Tang Yin, mit dem er zuweilen gemeinsam an einem Bild arbeitete, stand er zwischen beiden künstlerischen Hauptrichtungen seiner Zeit, oder genauer: er beherrschte beide. Ja er ging so gut wie mit allen überlieferten Stilen souverän um, lediglich die großen Yuan-Meister ignorierte er. Wahrscheinlich scheute er an ihnen das, was sie auszeichnete, ihm aber fehlte und was er vermutlich gar nicht anstrebte: ein individueller Stil. Sein Ehrgeiz war es, den erwählten Vorbildern möglichst nahe zu kommen - der Ehrgeiz des Berufskünstlers, der Kunst nicht als Charakterausdruck auffasste wie die Literaten. Er übertrug die Arbeitsweisen bedeutender Tang- und Song-Meister, glättete ihren Stil indem er manche Härten und Widersprüche aufhob, „modernisierte“ sie, indem er ein logisches, zusammenhängendes Raumkonzept einführte, vor allem aber verlieh er ihnen Eleganz und besondere Anziehung durch dekorative Anwendung der Farbe. Dank seiner traditionellen Konzepte und der Perfektion, mit der er sie ausführte, wuchsen seine Popularität und sein Ansehen bei den Gebildeten, was die Nachahmer auf den Plan rief. Qiu Ying ist wahrscheinlich der meistimitierte Maler der chinesischen Kunstgeschichte. Dennoch blieb sein Wirken praktisch folgenlos für die Entwicklung der Malerei, denn er schuf keinen eigenen Stil, noch bildete er eine Schule. Zwar hatte er Schüler und unmittelbare Nachfolger. Die aber konnten nichts von ihm übernehmen, als die Imitation seiner Imitationen, erreichten jedoch bei weitem nicht die Sicherheit seines dekorativen Geschmacks, noch die Präzision und zeichnerische Delikatesse, welche in seinen Arbeiten vorherrschen.
Was Qiu Ying auszeichnet, ist seine künstlerische Haltung, und darin beeinflusste er vielleicht manchen späteren Maler. Es ist sein Versuch, den Geist der Antike wieder aufleben zu lassen. Und zwar mit den Qualitäten der alten Meister wie er sie verstand: mit Klarheit und Genauigkeit. Von diesem Weg wich er nie ab. Seine Integrität, seine künstlerische Aufrichtigkeit zeigen sich darin, dass er auf Tricks und Effekthascherei verzichtete. Eher kann man ihm Übergenauigkeit zum Vorwurf machen, was bei manchen Werken zu einer akademischen Steifheit, ja Manieriertheit führte - falls er überhaupt für solche Beispiele verantwortlich ist.
Wie auch Zhou Chen und Tang Yin trug er zur inhaltlichen Bereicherung des Landschaftssujets bei durch detaillierte Schilderung der Landschaft selbst und vor allem durch ein erzählerisches Element, wogegen die Literatenmalerei sich in ihrer Motivwahl immer mehr eingeschränkt und alles anekdotische Beiwerk weitgehend verbannt hatte. Die Stoffe dieser Erzählungen, die sich Qiu im Umgang mit gebildeten Männern aneignete, entnahm er der Überlieferung vorbildlicher Taten der Vergangenheit, historischen Ereignissen, der klassischen Literatur oder daoistischen Legenden. Qiu Ying übertrug den Geist der Antike also nicht nur vermittels seiner Fähigkeit, alte Stile zu adaptieren, sondern indem er auch eine Botschaft übermittelte. Dadurch wuchs ihm eine moralische Autorität zu, die vergleichbar war mit jener der alten Meister selbst. Und dies dürfte der Hauptgrund gewesen sein für die Hochschätzung, die er von seinen intellektuellen Zeitgenossen erfuhr. Spätere Kunstkritiker taten sich schwerer, ihn anzuerkennen, da er ja nicht der gebildeten Klasse angehörte und „nur“ Berufsmaler war.
Seine Erzählungen sind auf eine Weise in die Landschaft eingewoben, dass bestimmte topographische Gegebenheiten zu einem Teil der Geschichte werden. Zwar dominiert die Landschaft, die Protagonisten erscheinen meist winzig im Verhältnis zu der umgebenden Natur, inhaltlich wird sie sozusagen wieder zum Ereignishintergrund wie zur Tang-Zeit siehe auch. Sie spricht nicht mehr allein für sich wie die weitgehend menschenleere Yuanlandschaft, sondern gewinnt an Interesse durch das Geschehen, das sich in ihr abspielt. Dabei ging Qiu Ying in der Erfindung anekdotischer Zutaten wie auch beschreibender Details für den Geschmack mancher Literaten zu weit: „Er konnte es nicht unterlassen, Füße hinzuzufügen, wenn er eine Schlange malte“, heißt es im Kommentar eines Zeitgenossen. Das bedeutet freilich nicht, dass die Landschaft hinter dem Erzählerischen zurücktritt, gleichsam als Ausschmückung der Geschichte. Gestalterisch bleibt sie die Hauptsache.
Han-Kaiser Guang Wu reitet durch eine Furt
Dong Qichang nannte Qiu Ying einmal den „wiedergeborenen Zhao Boju“. Was er damit meinte, lässt sich aus einer großen Hängerolle der National Gallery of Canada, Ottawa, ersehen: „Han-Kaiser Guang Wu reitet durch eine Furt“ . Der Aufbau des Bildes entspricht dem einer Song Komposition: im Vordergrund unten Bäume und Felsen, es folgt die Furt mit der Hauptfigurengruppe. Rechts schlängelt sich ein Weg zwischen Felsen und Fichten hindurch. Er führt über einen Knüppeldamm entlang einem Gebirgsbach, der von einem Wasserfall gespeist wird. Links taucht der Weg wieder hinter einer Felsgruppe auf, die den Mittelteil des Bildes beherrscht. Der Weg verschwindet in einem dunstverhangenen Kiefernwald, hinter dem ein Kloster auftaucht. Der Wald zieht sich schräg nach oben, wo rechts in einem Gebirgskessel weitere Tempelhallen aus dem Dunst hervortreten. Von hier aus steigen unwegbare Felstürme senkrecht an, überragt von einer zentralen Zinne. Wie eine Wand schließen sie das Tal ab.
Die Komposition steigt in einem spiralförmigen Rhythmus an, wobei die Raumnischen der alten Kompositionsmuster wieder aufgenommen sind, nun aber in einen engeren, konsequenteren Zusammenhang gebracht. Die von Felsen, Bäumen, Waldstücken oder Nebelbänken eingeschlossenen Landschaftszellen ergeben sich im Ansteigen der Bildbewegung wie selbstverständlich. In gleicher Weise folgt die Anordnung der Figuren einer aufsteigenden Spirale. Sie beginnt links bei einem stehenden Träger, der scheinbar zögert, ins Wasser zu steigen. Es folgt eine Szene, in welcher zwei Männer einem Alten die Uferböschung hinaufhelfen, derweil zwei Diener sich anschicken, die Furt zu durchqueren. Der hintere trägt außer anderem Gepäck ein prachtvolles Schwert und ruft mit ausgestreckter Hand seinem Gefährten offenbar zu, er möge ihm herabhelfen. Der, bereits im Wasser, winkt mit seinem Wanderstab, watet aber weiter. Inhaltlich das eigentliche Thema sind zwei Reiter in der Mitte der Furt. Sie befinden sich zugleich in der Bildachse, welche in der oberen Zinne endet. Mit ihren breitkrempigen Hüten und weiten, weißen Mänteln sind sie kaum zu unterscheiden. Der Kaiser wird auf einem Schimmel von vorne gezeigt, sein Begleiter, der sich ihm zuwendet, in Rückenansicht und auf einem Grauschimmel. Vor ihnen strebt ein weiterer Diener mit schwerem Gepäck an seiner Tragestange dem rechten Ufer zu. Dem Knüppeldamm folgend setzt sich die Spirale der Figuren fort in einem Lastenträger, der rechts - nun schon etwas höher und nach links gewandt - dem verschlungenen Weg folgt. Wo dieser hinter der zentralen Felsgruppe hervortritt - jetzt am linken Bildrand weiter oben - verschwindet gerade ein Vorreiter hinter einer Bodenwelle, sich nun wiederum nach rechts wendend.
Sein Ziel ist das Kloster hinter dem nebelverhangenen Waldstück, wo er Quartier machen wird für seinen Herrn und dessen Gefolge. Das Kloster stellt also nicht allein einen Stimmungsakzent des Panoramas dar, um Empfindungen von Einsamkeit und frommer Weltferne zu wecken, sondern es wird so zum Bestandteil der Erzählung. Die detailliert geschilderten Handlungen und die Gestik der Personen betonen nachdrücklich den erzählerischen Gehalt des Dargestellten.
Eine solche anekdotische Ausarbeitung, wenn auch mit anderen Motiven, ist einer von mehreren Bezügen zu einem berühmten Bild aus der Tang-Zeit, das Qiu ohne Zweifel kannte, vermutlich als Kopie: „Die Reise des Kaisers Minghuang nach Shu“ siehe auch. Das Thema selbst, die kaiserliche Reise durch eine schwer zugängliche Wildnis, weist schon auf diese Verwandtschaft hin. Qiu zitiert sogar eine Figur des Tang-Vorbildes, die in verschiedenen Kopien auftaucht: den hinter einer Bodenwelle abtauchenden Reiter der Vorhut. Die Art, wie der untere Teil des Pferdes angeschnitten ist, die Dreiviertelansicht des Reiters von hinten und seine vorgebeugte Haltung sind identisch, nur zeigt der Ming-Meister Reiter und Pferd spiegelverkehrt. Und nicht zuletzt ist es der Blau-Grün-Stil der Tangvorlage, den Qiu wieder aufleben lässt.
Es scheint jedoch, als habe er den Blau-Grün-Stil eher an den Song-Meistern studiert, als an Tang Werken. Die naturnähere Auffassung der Song muss ihm gemäßer gewesen sein. Von den Meistern, die in diesem Stil arbeiteten, waren es wohl die beiden Zhao, die ihn am meisten beeindruckten. In Zhao Bojus siehe auch Landschaften sind die Blau- und Grüntöne harmonisch fließend ohne Härten in den landschaftlichen Ablauf eingebettet. Ganz im Unterschied zu den Tang-Malern, die eine Vorliebe für leuchtende Farben hatten, weshalb Azurblau und Malachitgrün als vorherrschende Farben in der Landschaft dekorativ und kontrastreich angewandt wurden ohne Rücksicht auf die angemessene Lokalfarbe. Ursprünglich mochte diese Farbwahl der Beobachtung der „Luftperspektive“ entsprungen sein (fernes Blau, nahes Grün), jedoch waren die frühen Maler an anderen Dingen interessiert, als an Phänomenen der Wirklichkeit.
Qiu Ying, mit der großen Tradition der Landschaftskunst vor Augen, suchte den antiken Stil in natürlicher Weise seinem Landschaftsbild einzuverleiben. In dieser Beziehung eiferte er Zhao Boju nach, bei dem er auch eine Fülle anekdotischer Details in der Landschaft verstreut vorfand. In der Art aber, wie er die Felsstrukturen behandelt und die Gesteinsmassen übereinander türmt, sowie im krallenartigen Wurzelwerk und den knotigen Ästen, folgt er Li Tang. Diese mächtigen Felspartien sind nun vorwiegend mit Azurblau und Malachitgrün überzogen. Die Farben sind lasierend über die Zeichnung gelegt und verbinden sich harmonisch mit den Ocker- und Brauntönen ihrer Umgebung, ohne die Härte vieler älterer Bilder. Die Blau-Grün-Zonen steigen in einem schwingenden Rhythmus an, begleiten oder durchqueren die anderen aufsteigenden Bewegungselemente wie den Weg, den Wald, die Wolken. Dabei nimmt die Farbintensität nach oben hin zu. Das dunkelgrüne Buschwerk, das auf den Gipfeln wächst, verleiht in seiner gegensätzlichen Kompaktheit den kühlen Tönen eine transparente, nahezu gläserne Klarheit. Dass Bergschatten und Felsklüfte, wie weiter unten das Steilufer, statt dunkel zu erscheinen, in hellen Ocker- bis Orangetönen angelegt sind, macht sie wie von innen heraus leuchtend. In diesem Klanggewebe sind die weißen Gewänder einiger Figuren wie das „Tüpfelchen auf dem i“: wohl erwogene Akzente von belebender Wirkung. Dem Künstler ist es gelungen, eine unwirkliche Landschaftserscheinung scheinbar natürlich anmuten zu lassen. Ebenso sorgsam wie die Farbwahl ist die Durchführung der Zeichnung, worin kein Detail ausgespart bleibt, von jedem einzelnen Grashalm und Baumblatt bis zu den Gewandfalten und den Gesichtern der kleinen Figuren.
Trotz des monumentalen Vorwurfs bleibt das Bild im Miniaturhaften. Seine Detailbesessenheit, die starke Durchgliederung stehen im Widerspruch zu einem zusammenfassenden Zug, einem großen Wurf. Es ist sozusagen eine „monumentale Miniatur“ und insofern ein Meisterwerk, das vielleicht doch typisch ist für Qiu Ying.
Dong Qichang
Nach den Generationen der in den 1490er Jahren und um 1500 Geborenen - Qiu Ying, Lu Zhi, Wen Jia, Wen Boren - traten für ein halbes Jahrhundert keine überragenden Talente in der Landschaftsmalerei in Erscheinung. Die Literatenkunst begann sich zunehmend in Wiederholungen und Formelhaftigkeit zu erschöpfen. Mehrere lokale Schulen bildeten sich, die aber alle weitgehend gleichen Konzepten folgten. Theoretisieren über Malerei - schon immer eine beliebte Übung bei den malenden Gelehrten - nahm allmählich den gleichen Stellenwert ein, wie das Malen selbst, nicht selten gar einen höheren. Malerei diente in solchen Fällen sozusagen als Illustration der Theorie.
Mit Dong Qichang (1555-1636) trat ein Mann auf, gleichermaßen begabt in Theorie und Praxis, dessen Einfluss auf die Malerei, besonders aber auf die Kunsttheorie, bis in die neuere Zeit reichen sollte. In Huating (Shanghai, Jiangsu) geboren, entstammte er einer Grundbesitzerfamilie, die schon lange keine Beamten mehr gestellt hatte. Der hochbegabte junge Mann bestand das höchste Staatsexamen als Bester. In einer früheren Prüfung war er an die zweite Stelle gesetzt worden wegen seiner die Prüfungskommission nicht befriedigenden Handschrift. Dies war für Dong Anlass, sich in der Schriftkunst so zu vervollkommnen, dass er zum hervorragendsten Kalligraphen seiner Epoche wurde und einer der großen Schreibmeister der chinesischen Kunstgeschichte. In Peking nahm seine Karriere einen steilen Aufstieg. Er wurde an die Hanlin-Akademie berufen und brachte es bis zum Erzieher des Thronfolgers. Als er jedoch infolge einer Palastintrige in die Provinz versetzt wurde, verließ er den Staatsdienst und kehrte in seine Heimat zurück, wo er sich achtzehn Jahre lang der Literatur, der Schrift und der Malerei widmete. Im Huating benachbarten Songjiang kam er in Kontakt mit bedeutenden Künstlern, Gelehrten und Kunstkennern. Dort hatte er bereits in seiner Jugend Gelegenheit gehabt, in der wahrscheinlich bedeutendsten Sammlung Chinas nach der kaiserlichen, der des Xiang Yuanbian (1525-1590), alte Meister der Kalligraphie und Malerei zu studieren. Mit den Gelehrten Mo Shilong (tätig ca. 1567-1583) und Chen Jiru (1558-1639) verband ihn eine enge Freundschaft. Auf die Überlegungen dieses Triumvirats, niedergelegt in zahlreichen Essays und einer Fülle von Kolophonen, geht die Theorie der „Nördlichen und Südlichen Schulen“ zurück siehe auch. Bei einem Aufstand zwangsverpflichteter Landarbeiter, provoziert durch allzu große Härte, verloren Dong und seine Familie Haus und Hof. Erneut an den Kaiserhof berufen, wurde er mit hohen Ämtern betraut. Er arbeitete an einem Geschichtswerk der Wanli-Periode (1573-1620) und wurde zuletzt Präsident des Ritenministeriums. Kurz vor seinem Tod zog er sich 1634 aus dem Staatsdienst zurück.
In seinen Überzeugungen orthodox, brachte Dong Qichang in seine Malerei ein Arrangement ausgewählter, überlieferter Bildelemente ein, interpretierte sie aber höchst eigenwillig. Diese Mischung aus Intellektualität und gefühlsmäßiger Subjektivität war neuartig und immer unverkennbar. Seine auf gewissen Formeln beruhende Arbeitsweise erleichterte natürlich die Nachahmung. Abgesehen von späteren Imitatoren sollen speziell zwei Maler in seinem Stil, aber in seinem Auftrag gearbeitet haben, Zhao Zuo und Shen Shichong. Ihre Rollen soll er dann mit Aufschrift und Signatur versehen haben, ohne dass es klar war, ob das Bild von ihm stammte. Er verfuhr wohl deshalb so, um den Ersuchen hochgestellter Persönlichkeiten nachzukommen, da er sie nicht ablehnen konnte.
Theorien über die Malerei
In allen theoretischen Erwägungen bezog Dong sich auf die Vorbildlichkeit der Alten Meister, natürlich auf die der „Südlichen Schule“, obwohl er zuweilen offenbar auch Meister der „Nördlichen Schule“ kopierte, wie zum Beispiel Zhao Boju. Er betonte, dass es vor allem darauf ankomme, die alten Meister zu studieren, erst danach die Natur. Er bearbeitete so gut wie alle Meister der südlichen Traditionslinie. Als einen der wichtigsten künstlerischen Ahnen sah er Dong Yuan an, „Dong von meiner Familie“, auf den sich die meisten späteren Meister dieser Richtung ja ebenfalls gestützt hatten. So genau er die stilistischen Eigenheiten seiner Vorbilder analysierte - Bildaufbau, Pinselführung, Anwendung der Tusche - wenn er „in ihrer Art“ malte, kam stets ein Dong Qichang heraus. „Wer nicht imstande ist, solche Abweichungen zu vollziehen, ist wie eingeschlossen zwischen Zäunen und Wänden. Wer sich aber (von den Vorbildern) zu entfernen vermag, kann ihnen sehr wohl nahe kommen.“
Diese Umformung der alten Vorbilder beruhte auf klaren Vorstellungen, wie dies zu erreichen sei. Immer blieb das Ziel, das Wesen der alten Kunst zu erfassen und nicht an ihrer äußerlichen Erscheinung hängen zu bleiben. So dürfen nur wenige Landschaftselemente in die Komposition eingeführt werden, um Überfüllung und dadurch Unübersichtlichkeit zu vermeiden. Wenn Dongs Bilder dennoch „angefüllt“ wirken, so deshalb, weil er innerhalb der so begrenzten Hauptmotive - Berg, Felsen, Bäume - eine unbeschränkte Vielfalt und Dichte von Strukturen zulässt. Sie können gliedernde oder modellierende Funktion annehmen, als Vertiefung der Umrisse oder als Formungsstriche. Vor allem aber haben sie die Aufgabe, den Oberflächen einen graphischen Rhythmus zu verleihen. Dies zeigt schon, dass es Dong Qichang weder um augenscheinliche Ähnlichkeit mit den alten Modellen ging noch um Naturnähe, sondern um eine Neuorganisation der bildnerischen Mittel. Sein Prinzip der Analyse und des Neuzusammenfügens „fen he“, Teilen und Verbinden, fordert die Anordnung der Teile im Sinne einer tektonischen und klar durchschaubaren Komposition. Da die Bildelemente beschränkt sein sollen, werden Wiederholungen und Variationen der Großformen zu einem wichtigen Mittel. Es schafft Einheitlichkeit und vereinfacht die Bildorganisation. Schlichtheit und Klarheit des Bildbaus erscheinen zugleich als Reflex der geistigen Klarheit des Urhebers. Trotz des architektonischen Aufbaus erheben sich Dongs Berge jedoch oft auf schwankendem Boden, die Wasserflächen bilden schiefe Ebenen, Gebirge und Felszinnen scheinen zu kippen. Dong begründet dies mit dem „shi“ der Berge, mit jener Kraft und dynamischen Energie, welche die Dinge in ewiger Bewegung hält. Gemeinsam mit der dichten und bewegten Textur verleiht dies den typischen Dong Qichang Landschaften - trotz ihrer Tektonik - eine Unruhe, die solchen Bildern fehlt, worin er sich enger an sein Modell hält, zum Beispiel bei Arbeiten nach Mi Fu, wie dem Albumblatt „Landschaft und Kalligraphie“ einer Privatsammlung (Verbleib unbekannt) . In seinen charakteristischen Werken ist die Pinselführung unkalligraphisch, das heißt die Linien sind nicht mit großzügigem, sicherem Schwung hingeschrieben, sondern scheinbar mit einer gewissen Ungeschicklichkeit hingestrichelt. Dies ist um so erstaunlicher, wenn man sich vor Augen hält, welch bedeutender Kalligraph Dong war. Es genügt ein Vergleich des ungezwungenen, flüssigen Duktus seiner Beischriften mit der in manchen Fällen geradezu kindlich anmutenden Unbeholfenheit des Malvortrags. Diese Diskrepanz erklärt sich aus einer typischen These der wen ren Ideologie und zeigt, wie sehr Dongs Malerei auf theoretischen Überlegungen basiert. Da malerische Techniken für jedermann erlernbar sind, also auch für Ungebildete und Berufsmaler, welche die Kunst als Handwerk betreiben, galt technische Geschicklichkeit zwar als angemessen für solche Handwerker, wurde aber gering geschätzt. Die dazu notwendige Mühseligkeit und den aufwendigen Fleiß sahen die Literaten geradezu als Hindernis an, zu einem persönlichen Ausdruck zu gelangen, der nur in freier, spielerischer Weise zu erreichen war. Einem echten wen ren Bild durfte keinerlei technische Virtuosität oder gar Perfektion anhaften. Jene demonstrative handwerkliche Unbeholfenheit galt als Ausweis geistiger Überlegenheit und echter Empfindung.
Vieles durch Weniges auszusagen, war den Literatenmalern schon lange ein wesentliches Kriterium guter Malerei. In der Forderung nach Beschränkung der Bildkomponenten folgte Dong dieser Richtschnur. Je überladener mit Einzelheiten die Komposition ist, je aufwendiger die Technik und die handwerkliche Geschicklichkeit, welche in ein Bild investiert werden, um so weiter entfernt sich das „qi yun“, jenes Echo des Lebendigen, das den wahren Wert eines Bildes ausmacht siehe auch. Das Mittel, lebendigen Geist in ein Bild zu bannen, ist die Art und Weise der Strukturstriche, der „cun“, die jedem Künstler eigen ist und womit er seine ganz persönliche Eigenart ausdrückt. Als tiefstes Geheimnis der Kunst kann dies nicht gelehrt werden.
Wesentliche Voraussetzung eines guten Landschaftsbildes ist der richtige Gebrauch von Tusche und Pinsel. Zunächst seien die Umrisse der Berge festzulegen, danach ihre Strukturen einzufügen. Falsch sei es, (Gesteins-) Fragmente zu einem großen Berg aufeinander zu häufen. Bilder, die nur in Umrisslinien ausgeführt seien und ohne Strukturstriche, hätten die Alten „ohne Pinsel gemalt“ bezeichnet. Bilder mit Strukturstrichen, aber ohne Unterscheidung der wichtigen Teile, ohne Trennung von Vorder- und Hintergrund, von Hell und Dunkel habe man „ohne Tusche“ genannt. Danach war Dong der Auffassung, dass es bei den Struktur- und Formungsstrichen auf die Führung des Pinsels ankomme, also auf die persönliche Handschrift. Bei der Bildgliederung, der Unterscheidung heller und dunkler Partien, der plastischen Durchformung auf die Beschaffenheit der Tusche: in vollem Schwarzton oder verdünnt, dickflüssig oder fließend, deckend oder lasierend. Der Farbe maß er untergeordnete Bedeutung bei. Soweit er sie selbst anwandte, hatte sie zurückhaltend zu sein.
Die intellektuelle Annäherung an die Kunst, welche sich in solchem Theorie-Eifer zeigt, hinderte Dong Qichang und seine Freunde nicht, einer geradezu mystischen Auffassung der „richtig“ betriebenen Malerei zu huldigen. Schon die Theorie von der „Nord- und der Südschule“ siehe auch in ihrer Gleichsetzung mit zwei Richtungen des chan-Buddhismus weist auf solche Transzendierung der Kunst. Dong praktizierte chan-Übungen und Meditation, und eine seiner theoretischen Schriften trägt den Titel: „Versuch über chan in der Malkunst“. Dong Qichang, Mo Shilong und ihr Freundeskreis waren der Überzeugung, dass die großen Meister - wie zum Beispiel Huang Gongwang, Shen Zhou oder Wen Zhengming - deshalb ein hohes Alter erreicht hatten, weil „das Dao der Malerei ihnen das Universum in die Hände legte“. Das heißt sie erfassten den Geist, den Atem, die Resonanz des Lebens. Die kleinlich arbeitenden Maler, gewöhnlich Berufsmaler, Akademiker oder solche, die man nicht der Südschule zurechnen mochte, hätten sich zu Sklaven der Natur gemacht und so ihr Leben verkürzt, wie Qiu Ying oder Zhao Mengfu. Sie seien Männer gewöhnlicher Routine gewesen und hätten die Malerei nicht als Mittel (persönlichen) Ausdrucks benutzt, noch hätten sie Freude daraus geschöpft. Malerei konnte nach diesen Vorstellungen also geradezu als daoistische Methode der Lebensverlängerung wirken.
Acht Szenen im Herbst
Der Gegensatz zwischen absichtlicher Schwerfälligkeit und Naivität der Malweise und der meisterlichen Beherrschung des Pinsels beim Schreiben ist besonders augenfällig in dem oben genannten Albumblatt oder auch in den „Acht Szenen im Herbst“ des Shanghai Museums im Vergleich mit einer Kalligraphie in Kursivschrift des Tokio Nationalmuseums . Natürlich verraten bestimmte Einzelheiten der „Acht Szenen“ den Könner, wie etwa die Behandlung der Bäume. Nach Dongs Auffassung sollte Kalligraphie spontan sein, Malerei aber „reif“, was immer er darunter verstand - vielleicht „allmählich entwickelt“, „mit Überlegung aufgebaut“. Dennoch erklärt ein bedachtsamer Malvorgang die vorgetäuschte Ungelenkheit nicht.
Bergblick und Flussfarben
Dongs Intellektualität ging einher mit einem wahrhaft bildnerischen Talent. Obwohl er sich in seinen reiferen Jahren zunehmend von seinen Theorien beim Malen leiten ließ, brachte er überzeugende Bilder zustande. In sich schlüssig und einheitlich sind sie allemal, jedoch wirken sie oft etwas trocken, was unter anderem auf eine gewisse Formelhaftigkeit zurückzuführen ist. So scheint ein Spätwerk von 1628 „Bergblick und Flussfarben“ im Palastmuseum, Peking, geradezu wie eine Illustration seiner ästhetischen Anschauungen . Der Vordergrund der Hängerolle wird beherrscht von einer Baumreihe an einem hügeligen Flussufer, das nach links abfällt. Es folgt der Fluss, der einen weiten Bogen beschreibt und im Mittelgrund zwischen flachen, zerklüfteten Hügeln und Felsblöcken verschwindet. Auf ihnen wächst eine weitere Baumreihe, welche die niedrigen Hügel vom Hauptfelsen trennt, einer grotesk gebildeten Felszinne. Zwischen ihr und einem von rechts abfallenden Hang öffnet sich noch einmal der Ausblick auf den fernen Fluss und auf niedrige Berge am jenseitigen Ufer.
Das Bild ist klar gegliedert, die Landschaftselemente sind jeweils zusammengefasst: niedrige Hügel, Felsen, Baumgruppen, der zentrale Fels, die Leerflächen des Wassers und des Himmels. Eine Neigung zu einer dem Dreieck angenäherten Formation der Geländeteile wird spürbar im Aufbau von Felsen und Hügeln, was eine Verfestigung der Bildtektonik bewirkt. In einem ansteigenden Rhythmus sind die Massen dieser Dreiecksformen über die Komposition verteilt: von der rechten unteren Bildecke über die Felsen links, zum Mittelgrundhügel rechts und den fernen Bergspitzen, bis hinauf zur Hauptzinne. Auch die Negativform des fernen Flussausschnitts ergibt ein Dreieck zwischen dem das Bild beherrschenden Zentralgipfel und dem rechten Hang, der mit dem Bildrand ebenfalls ein Dreieck bildet. Die hintereinander gelagerte Wiederholung der Einzelformen bekräftigt ihre Formtendenz. Die so erreichte Verfestigung des konstruktiven Gefüges wird jedoch konterkariert dadurch, dass horizontale und vertikale Elemente willkürlich aus ihrer gewohnten Lage gebracht sind: die Baumreihe des Mittelgrundes kippt nach rechts, ebenso der zentrale Fels; die Landzungen, die fernen Ufer und Berge rutschen nach links ab.
Schiefe Bergketten und Wasserflächen hat Dong Qichang bereits bei Ni Zan vorgefunden, und im Aufbau dieses Bildes scheint ebenfalls das Ni Zan-Konzept hindurch: Bäume im Vordergrund, ein Gewässer im Mittelgrund, dahinter aufragende Berge. Während aber bei Ni Zan der Eindruck von Weite herrscht, hervorgerufen durch die ausgedehnte Wasserfläche, welche Baumgruppe und ferne Ufer zugleich trennt und verbindet, ist bei Dong all dies eng verwoben. Die Bäume des Vordergrundes sperren die distanzbildende Fläche des Flusstals ab und verbinden mit ihren wechselvollen Strukturen die lebhaft gefalteten Bodenformationen des Vordergrundes mit denen des Hintergrundes. Die für die meisten Landschaften der alten Meister so typische Augenwanderung wird durch diese Blicksperre gehemmt. Der Betrachter wird nirgends in das Bild hineingeführt und wenn er sich mühsam einen Weg suchen möchte, verirrt er sich zwischen den Felsen, die jeden möglichen Durchgang abriegeln. Der Mensch bleibt sozusagen ausgesperrt. Und tatsächlich ist er wie bei Ni Zan vollkommen aus Dongs Landschaften verbannt. In unserem Beispiel sind nicht einmal menschliche Behausungen zu sehen, die in anderen Bildern immerhin auf die Existenz von Menschen hinweisen. In einem Fall lautet der Titel kurioserweise „Gespräch am Fluss über das Altertum“ (Nationales Palastmuseum, Taipei), aber die Gesprächspartner sind nicht zu sehen, nur einige Hütten.
Indem Bäume und Felsriegel den Blick in tiefere Zonen bis auf den Flussausschnitt abschirmen, verhindern sie eine Raumbildung. Jedoch nicht sie allein. War im Landschaftsbild der alten Meister die Raumwirkung ohnehin reduziert, so wirkt Dongs Arbeitsweise ihr noch weiter entgegen. Sein Hauptaugenmerk gilt neben dem autonomen Bildbau den bildnerischen Strukturen, alle anderen Kriterien werden diesen untergeordnet oder ausgeschieden. Obwohl die Landschaft von einem erhöhten Standpunkt aus gesehen wird, ein hoher Horizont gegeben ist und somit ein Fernblick, bleibt das Bild merkwürdig tiefenlos. Es sind die gleichmäßig durchgearbeiteten Strukturen, die übergangslos den gesamten Landschaftskörper überziehen, welche jede Distanzwirkung überbrücken. Innerhalb der festgelegten Hauptmassen reicht ihr Gewoge bis hinauf zum Gipfel und duldet nur wenige Leerflächen. Die trocken aufgerissenen Strukturstriche sind stellenweise mit dünner Lavierung zusammengezogen, wie zum Beispiel im Laubwerk, wodurch eine flächenhafte Wirkung entsteht. Da die Einzelformen gleichzeitig stark modelliert sind mit teilweise tiefschwarzen Einschnitten, ergibt sich durchgehend eine flache Reliefwirkung, welche noch die Bergzüge des Hintergrunds erfasst. Sie bedeuten zwar Entfernung, bildnerisch sind sie jedoch den davorliegend gedachten Partien angenähert. Weil also kein Unterschied gemacht wird in der Behandlung ferner und naher Zonen, wird nicht allein Raumtiefe aufgehoben, sondern auch alles Stimmungshafte und Atmosphärische. Ebenso ist alles vermieden, was dem Auge einen angenehmen Reiz bieten könnte: herb und streng sind die Formen, betont unelegant, die Bäume struppig, die Felsen rauh. Alles ist der Bildtektonik und der Oberflächenstrukturierung unterworfen. Die Formungsstriche sind im wesentlichen denen des Dong Yuan nachgebildet - als „Hanffaser-cun“ - und denen des Mi Fu und des Ni Zan - als waagerechte Tupfen. Aber keiner dieser Vorläufer hat die cun und die Konturlinien so augenscheinlich unbeholfen hingestrichelt. Der Malvortrag steht in lebhaftem Gegensatz zu den flüssig geschriebenen Zeichen, die, mit sicherem Gespür für die Akzentuierung des Leerraums hingesetzt, über dem Gipfel schweben.
Eine nahezu identische Komposition zeigt eine Hängerolle des Nationalen Palastmuseums Taipei: „Schattige Bäume in einer Sommerlandschaft“ .
Bildaufbau und Strukturelemente sind die gleichen. Nur finden sich hier einige winzige Behausungen versteckt zwischen Bäumen und Klüften als einzige Spur menschlichen Lebens.
Kein Maler vor Dong Qichang konzentrierte seine Bemühungen derart auf die Objektivierung der Bildmittel. Zugleich steigerte er den subjektiven Ausdruck seiner Handschrift zuweilen zu einer Expressivität, welche jegliches Naturvorbild ignorierte. Es ging ihm um eine „innere Realität“, nicht um Nachahmung eines äußeren Erscheinungsbildes. Dem heutigen Betrachter erscheinen seine Bilder deshalb erstaunlich modern. Kein Maler vor ihm hat die Radikalität der Abstraktion so weit getrieben.
Sein Einfluss auf Zeitgenossen und nachfolgende Generationen war ungeheuer. Und zwar nicht nur wegen seiner Theorien, sondern gerade auch aufgrund seiner künstlerischen Haltung. Die chinesische Malerei, insbesondere die Landschaftskunst, war nach ihm nicht mehr das, was sie vor ihm war. Betonte Subjektivität, eine lockere Pinselführung, welche Unmittelbarkeit des Ausdrucks, Frische und Lebendigkeit suggerieren sollte, wurden zur Richtschnur und bei schwächeren Talenten zur Manier. Die akademische Richtung war derart desavouiert, dass sie praktisch verschwand. Sogar die Hofmaler begannen nun im Literatenstil zu malen. Trotz dieses Einflusses und seiner überragenden Stellung als faktisch unbestrittene Autorität in Sachen Kunst, hat die chinesische Kunstkritik Dong Qichang nicht zu den „Großen Vier“ der Ming-Zeit gezählt. Dies zeigt, dass sie trotz zahlreicher Vorurteile und Irrtümer durch Jahrhunderte sich den geschärften Blick für Unterschiede in Qualität und künstlerischem Rang erhielt. Gemessen an seinen Vorbildern reicht Dong Qichang als Maler letztlich kaum an einen dieser Meister heran.
Wu Bin
Einer der interessantesten „Individualisten“, die gegen Ende der Ming-Zeit immer häufiger auftraten, war Wu Bin (tätig ca. 1585-1626). Kunsthistoriker bezeichneten diese Maler so, da sich keiner von ihnen eindeutig einer Schule zuordnen ließ. Weitgehend stimmten sie darin überein, dass sie der Malweise Dong Qichangs nicht folgten, jedoch seiner Auffassung, dass man sich von den Vorbildern entfernen müsse, um ihnen nahe zu kommen. Sie wollten nicht im modernen Sinne etwas Neues, Einmaliges hervorbringen, sie verwarfen die Tradition nicht, sondern ein jeder interpretierte sie in seinem Sinn. Auch waren nicht alle ausgefallene Charaktere oder Exzentriker wie Xu Wei oder Cheng Hongzhou.
Wu Bin stammte aus Putian, Fujian. In seiner Heimat, wo er vermutlich eine malerische Ausbildung erhielt, waren gewisse Züge der Song-Tradition erhalten geblieben. Er schlug die für Gebildete übliche Beamtenlaufbahn ein und kam an den Hof von Nanking, wo er die Stellung eines Sekretärs in der Zentralverwaltung erreichte. Sein malerisches Talent fiel auf, und er wurde zum Hofmaler ernannt. Auf Dienstreisen lernte er manches bizarre Panorama des Südens kennen, was sich in einer Anzahl phantastischer Landschaftsszenerien niederschlug. Sein offenbar geradliniger Charakter zeigt sich in dem Mut, mit dem er öffentlich Kritik an gewissen politischen Entwicklungen übte, was ihn ins Gefängnis brachte und seiner Beamtenlaufbahn ein Ende setzte.
Als Maler interessierten ihn verschiedene Themenkreise: Blumen, Vögel, Landschaften. Zu seiner Zeit waren wahrscheinlich seine Bilder mit buddhistischem Inhalt am höchsten geschätzt. Sie wurden mit Werken Ding Yünpengs verglichen, wirken aber meist steifer und pedantischer in der zeichnerischen Übergenauigkeit ihrer Einzelheiten.
Sommerhaus unter Kiefern zwischen hohen Bergen
Unter seinen Landschaftsbildern gibt es Gebirgspanoramen von einer übersteigerten Vertikalität, als wolle er die aufgetürmten Felszinnen der Song-Meister übertreffen. In manchen dieser Bilder scheint die Monumentalität der Nord-Song auf, nun aber bis ins Groteske übertrieben. Die Bergriesen wirken trotz ihrer Gewaltigkeit kulissenhaft und zerbrechlich wie in der Hängerolle „Sommerhaus unter Kiefern zwischen hohen Bergen“ (Asian Art Museum San Francisco) . Bilder dieser Art haben etwas Beklemmendes, ja Alptraumartiges. Beängstigende Felsüberhänge, Steilschluchten, Durchbrüche, Torsionen und zerbrechlich dünne Steinsäulen als Bergstütze erwecken solche Gefühle. Gebäude stehen auf so weit vorspringenden Plateaus, dass sie Luftgebilde sein müssten, um nicht mit der Plattform herabzubrechen. Auf anderen Bildern finden sich phantastische Felsbrücken, gefährlich schmal und fragil wie Schneewächten.
Wu Bins Malweise sagte man nach, sie sei wie „in Jade geschnitten“. Dies gilt für die zackigen Silhouetten und Felsgrade solcher Monumentallandschaften wie für die Ausführung ihrer Details.
Den Frühling willkommen heißen
Auch eine Querrolle wie die des Cleveland Museums of Art „Den Frühling willkommen heißen“, obwohl einem anderen Kompositions- und Ausdruckskonzept folgend, weist die gleiche Schärfe und Genauigkeit auf . Die Rolle gewährt den Blick in ein steiles, gewundenes Flusstal mit einer Reihe von Ortschaften, in welchen die Menschen geschäftig den Vorbereitungen zum Frühlingsfest nachgehen. Die Bergspitzen sind vom oberen Bildrand abgeschnitten, wodurch zunächst der Eindruck gewaltiger Bergmassive entsteht. Der übliche erhöhte Standpunkt erlaubt die Übersicht über das gesamte Geschehen eines weiten Landstrichs, den der Betrachter sich hier wieder „erwandern“ kann nach Art der Song-Meister.
Die Verkleinerung der Gegenstände mit zunehmendem Abstand erscheint hier deutlicher als in älteren Bildern, und es finden sich gewagtere Überschneidungen der weit ausladenden Felsmassive. Eine langgezogene Brücke und einige gewundene Wege deuten zaghaft eine Verengung in der Ferne an im Sinne einer räumlichen Perspektive. Auch sind entferntere Bildpartien zarter getönt, als näher liegende, ohne allerdings an Genauigkeit zu verlieren. Insgesamt jedoch folgt der Kompositionsablauf dem alten Schema der Handrolle. Die traditionellen Kompositionsmethoden überwiegen bei weitem gegenüber solchen Neuerungsversuchen. Wie die Vielzahl von Tälern, Schluchten und Baumgruppen umgreifen auch die phantastisch überhängenden Felsen in sich geschlossene Landschaftsausschnitte und bilden höhlenartige Nischen. Hier sind die alten Raumzellen wieder aufgegriffen, worin sich unzählige der verschiedenartigsten Szenen abspielen. Dieses erzählerische Element tritt nun wieder so stark hervor wie zuletzt in der Song-Zeit. Es erinnert an die wimmelnden Massenszenen des Zhang Zeduan siehe auch, hier dominiert von einer gewaltigen Landschaftskulisse.
Die Zeichnung ist in miniaturhafter Feinheit ausgeführt und überzieht wie ein filigranes Gewebe die gesamte Rolle, wobei nur die Wasserflächen ausgespart sind. Die Felsstrukturen bestehen aus kurzen Strichen, welche nur an den Umrissen zusammenhängende Linien bilden. Blatt- und Astwerk sind erfindungsreich zu verschieden graphisch ornamentierten Gruppen zusammengefasst. Wie Häuser, Tempel, Tore, Brücken, Boote und wie die anscheinend hunderte von winzigen Figürchen sind sie stark vereinfacht gezeichnet. Diese Reduzierung der Gegenstände auf kürzelhafte Zeichen bewirkt einen märchenhaften, erzählerischen Ton und gibt der Darstellung einen illustrativen Charakter unabhängig vom Anekdotischen des Inhalts. Der zeichnerische Duktus wirkt naiv wie von Kinderhand. Ein Zug des Unwirklichen entsteht nicht nur durch diese scheinbare Naivität, sondern nicht zuletzt durch die Unbekümmertheit, der Szenerie auch nur einen Anstrich von Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Besonders deutlich wird dies an den physikalisch unmöglich überhängenden Felsen, die bei näherer Betrachtung nicht massiv, sondern immateriell wirken, stellenweise eher Wellen ähnlich, als Gestein.
Das zeichnerische Netzwerk wird harmonisch zusammengefasst mit Hilfe einer zarten Farbigkeit, die ihm unterlegt ist: dünn lavierte Blau- und Grüntöne, blasses Ocker, Braun und Schiefergrau. Selbst die Zeichnung changiert. Die Farbe weist keinerlei selbständige Akzente auf, die unabhängig von Zeichnung oder Lokalfarbe wirken, sondern tritt auf als leise Begleitmusik zur graphischen Vielfalt des Dargestellten.
Die grotesken Verwindungen in Wu Bins Landschaften, ihre überdehnte Vertikalität im Hochformat, ihre dichte und bewegte Oberflächenbehandlung, die dem Auge nur selten ein Verweilen gestattet, lassen den Bildablauf kaum zur Ruhe kommen. Eine Unruhe durchzieht diese Bildwelt, die sie gemeinsam hat mit vielen Landschaften der späten Ming-Zeit und die von den Individualisten zuweilen extrem übersteigert wurde. Gewisse Elemente der europäischen Kunst fanden zu jener Zeit Eingang in die chinesische Malerei, und sie sind auch zum Teil im Werk Wu Bins andeutungsweise wahrzunehmen: raumbildende Linearperspektive, Verkleinerung entfernter Gegenstände, Überschneidung weiter hinten liegender Motive durch Großformen des Vordergrundes, um den Abstand zu verdeutlichen, Wasserspiegelungen. Eine gewisse Kenntnis europäischer Kunstauffassung und Bildorganisation wurde in der Hauptsache wohl durch die Jesuiten vermittelt siehe auch, die Illustrationen des christlichen Glaubens in Form von Kupferstichen und Holzschnitten nach europäischen Meistern ins Land brachten.
Die Unruhe, die sich in vielen Bildern der Zeit ausspricht, die oft prekäre Balance der Bildelemente oder deren nicht selten willkürliche Anordnung, scheinen einem ungewissen Gefühl der Künstler zu entsprechen, sich auf schwankendem Boden zu befinden. Sogar bei dem strengen Dong Qichang kippt häufig die Grundebene des Bildes. Dieses wahrscheinlich unbewusste und unbestimmte Gefühl von Unsicherheit war mehr als gerechtfertigt durch die geistige und politische Situation der späten Ming-Zeit. Einer der Gründe für diese Gefühlslage, wenn auch gewiss nicht der schwerwiegendste, könnte das Zusammentreffen mit westlichen Anschauungen und Errungenschaften gewesen sein, welche nie hinterfragte Traditionen und Normen plötzlich relativierten.
Sheng Maoye
Zu den späten Meistern der Ming-Zeit, die in individueller Weise die Tradition der Wu-Schule fortsetzten, gehörte Sheng Maoye (tätig ca. 1605-1640). Von ihm ist wenig mehr bekannt als sein Geburtsort Changzhou, Jiangsu, als dass er in Suzhou lebte und ein Gelehrter war.
Einsame Klause unter alten Bäumen
Die Art und Weise, wie er die Tradition der Wu-Literaten, die in Suzhou nach wie vor wirksam war, mit Zügen der Süd-Song Akademie verband, verdeutlicht eine Hängerolle des Cleveland Museums of Art: „Einsame Klause unter alten Bäumen“ aus dem Jahre 1630 . Dem schier unerschöpflichen Motiv des Menschen, des betrachtenden Gelehrten, der die Einsamkeit der Natur sucht, in der chinesischen Kunst unzählige Male behandelt, gewinnt Sheng eine originelle Variante ab. In einer engen, steilen Gebirgsschlucht kauern einige Hütten halb versteckt zwischen Felsen unter mächtigen Baumriesen. Die vordere Behausung ist waghalsig ans felsige Ufer eines Wildbachs gebaut und steht auf einem wackeligen Gestänge von krummen Pfählen. Offenbar unberührt von solch trivialer Nebensächlichkeit, ist ein Gelehrter auf der Veranda ganz der Naturbetrachtung hingegeben. Die abgekürzte Typisierung der kleinen Gestalt hat einen Zug ins Komische, ja Karikaturhafte, was sich auch bereits in der fragwürdigen Bauweise der Hütte zeigt, vergleicht man sie manchen eleganten Pavillons ähnlicher Bildthemen. Es scheint sich darin eine humorvolle Distanz von der Naturschwärmerei der Literaten auszusprechen. Zugleich aber erfasst der Maler das Naturerlebnis unmittelbar und überzeugender, als die meisten seiner Zeitgenossen, die sich davon immer weiter entfernten. Monumentalität verbindet sich gewöhnlich mit dem Erhabenen, kaum mit einem Sinn für Komik. Hier geht beides bruchlos und wie selbstverständlich zusammen. Der humoristische Aspekt hindert nicht den monumentalen Aufbau der Komposition.
Aus der rechten unteren Bildecke stoßen überhängende Felsblöcke, von struppigem Gebüsch bewachsen, schräg nach oben. Dazwischen eingeklemmt sind die Hütten. Aus dem Gestein bricht ein Kiefernstamm hervor, neigt sich weit über den Abgrund, krümmt sich dann nach oben, um hoch hinauf zu wachsen, die knorrigen Äste verdreht nach allen Seiten reckend. Dahinter krallt eine riesige alte Fichte ihre Wurzeln in den Fels. Sie setzt den steilen Anstieg der Komposition entlang dem rechten Bildrand fort. Ihre Krone ragt hoch in die Nebelschwaden, die hinter ihr Felsen und Büsche am Steilhang der Schlucht überziehen. Links neigen sich mächtige Felsblöcke zum Bildrand hin. Sie sind weitgehend in Nebel gehüllt und setzen den von rechts unten ansteigenden Diagonalzug fort, der verstärkt wird durch die Richtung der Felsstrukturen. Die linke obere Bildecke ist leer gelassen bis auf den Schriftzug des Künstlers. Sie stellt die dunstverhangene Öffnung der Schlucht dar. Zu ihr bildet der kontrastreich gemalte Vordergrund mit Felsen, Bäumen und Hütten den Gegenpol: es ist eine typische Diagonalkomposition in der Weise der Süd-Song, ja sie ist schon dem „Eineck-Stil“ siehe auch angenähert durch die starke Betonung des Vordergrundes rechts unten. Zeittypisch ist das Ausschnitthafte der Komposition, die man sich ergänzt denken kann zu einem gewaltigen Panorama im Stile der Nord-Song. Auch tritt die Farbe in zart aquarellierten Tönen zurück hinter der kraftvollen Zeichnung. Diese nun entspricht in ihrem persönlichen Duktus, in ihrer Handschriftlichkeit und dennoch disziplinierten Genauigkeit den Forderungen des Literatenstils. Dynamisch, locker und frei schwingend umschreiben die saftigen Pinselzüge ihre Gegenstände. Aus der Nähe wirken sie, ob getupft, gestrichelt oder mit gespaltenem Pinsel breit gezogen, geradezu impressionistisch. Die Tusche wird teils flüssig, teils halbtrocken eingesetzt. Kontur und Oberflächenstruktur bilden eine malerische Einheit und wirken überall frisch und unmittelbar. Ein nachempfindendes Naturerleben zeigt sich darin, wie organischem Wachstum nachgespürt wird, wie die Stimmung der Landschaft überzeugend erfasst ist im Wallen des Nebels, aus dem man das Rauschen des Wildbachs zu vernehmen glaubt.
Naturerleben, nicht Naturnachahmung! Denn wie etwa bei Wu Bin finden sich auch bei Sheng Maoye um die Wirklichkeit der Dinge unbekümmerte Momente. Neben der unglaubwürdigen Unterkonstruktion der Hütte, dem gerade noch denkbaren bizarren Wuchs der Kiefer und dem in seiner ganzen Höhe sichtbaren, nirgends von ihren Ästen verdeckten Stamm der Fichte, hängt links ein Fels so über dem Abgrund, dass er eigentlich abbrechen müsste. Zudem löst er sich oberhalb in Dunst auf und da, wo man sein Ende vermutet, wächst eine mächtige Zinne empor. Solche im naturalistischen Sinne Ungereimtheiten sind hier Mittel der Ausdruckssteigerung, die diesem Bild nichts von seiner Überzeugungskraft nehmen.
Sheng Maoye war vielleicht der letzte Meister, dem es gelang, Naturempfinden mit den Mitteln der Literatenmalerei auszudrücken. Er stand an der Schwelle einer Epoche, in welcher die Künstler so sehr mit den bildnerischen Mitteln befasst waren, dass dies ihnen den Blick auf die Natur verstellte.